Schule in Indien

Indiens Kultur hat jahrtausendalte Wurzeln und Schule war im Land der Maharadschas stets mehr als Wissensvermittlung. Vielfältig und reich sind auch heute die Bildungsangebote und Entwicklungschancen, vor allem für Kinder, deren Eltern die finanziellen Mittel haben, um in die Ausbildung zu investieren.

von Prakash Ramachandran  

 

Indien besitzt eine lange Tradition der mündlichen Kultur. Im Sanskrit, der klassischen Sprache Indiens, nehmen die Laute eine zentrale Rolle ein. Die heiligen Schriften Indiens, die Vedas, bestehen zum größten Teil aus Liedern. Lange Zeit bestanden Vorbehalte gegenüber schriftlicher Fixierung und Lehrer haben ihren Schülern das Schreiben untersagt. Heute wird allerdings viel Schriftliches abverlangt.

 

Das traditionelle Schulsystem

Vor der englischen Kolonisierung existierte in Indien das traditionelle Schulsystem, der Gurukul. Guru bedeutet Lehrer, kul heißt Tradition. Es war weit mehr als ein bloßes Schulsystem. Es war Ausdruck einer ganzheitlichen Lebensphilosophie.

Die Schulen waren oft im Wald, weil es dort ruhiger war. Dort lebte auch der Lehrer. Meistens war er verheiratet und lebte mit Frau und Kindern. Die Schüler lebten in Gemeinschaft mit der Familie des Gurus und  sollten den Lehrer und seine Frau als ihre eigenen Eltern ansehen. In Indien sagt man: „Matha (Mutter), Pitha (Vater), Guru (Lehrer), deivam (Gott)“. Der Lehrer kommt sogar noch vor Gott.

Alle Entscheidungen über Lerninhalte oder Dauer des Unterrichts wurden vom Guru getroffen. Es war nicht einfach, einen Platz als Schüler zu bekommen, denn der Lehrer nahm nicht alle als Schüler an. Er behandelte alle Kinder - ob reich oder arm - gleich. Sie mussten gehorchen, waschen, putzen oder die Haustiere pflegen. Alle bekamen ein einfaches vegetarisches Essen, meistens mit wenig Salz und ohne Geschmack, weil die Kinder sich in erster Linie auf die Schule konzentrieren sollten. Es gab keinen festen Studienplan. Man beschäftigte sich z. B. mit Sprachen, Geografie, Naturwissenschaften, Kunst, Mathematik, Musik, Tanz und Kampfsport.

Auch heute noch gibt es Gurukul-Schulen. Sie haben aber an Bedeutung verloren und sind auch nur gewissen Kasten zugänglich. In diesen Schulen lernt man heute Sanskrit und Liturgie, wie sie für die Rituale in den Tempeln verwendet werden. Es gibt auch einige Formen von Gurukul-Schulen, an denen man Musik oder indische traditionelle medizinische Systeme wie Ayurveda oder Siddha, Bildhauerei, Astrologie oder die Lesekunst alter Palmblätter erlernt. Kinder, die diese Art von Ausbildung durchlaufen, haben nicht selten eine erstaunliche berufliche Karriere gemacht.

Eine weitere Schule in dieser Gurukula-Tradition ist die sogenannte „Thinnai pallikoodam“. Thinnai bezeichnet in Indien den typischen Vorraum von Häusern, der als Klassenzimmer benutzt wird. In der Regel unterrichtet ein Lehrer alle Fächer. Die Kinder kommen mit einer kleinen Schiefertafel. Diese Arten von Schulen sind fast verschwunden, weil moderne Häuser anderes gebaut werden.

Das heutige Schulsystem

In Indien existieren mehrere Schulformen nebeneinander: staatliche, halbstaatliche und private, die sich nur Wohlhabende leisten können. Sie alle umfassen zehn Jahre Schulausbildung bis zur Sekundarstufe.

Die Einschulung erfolgt im Alter von fünf Jahren. Bis zur 10. Klasse bleiben alle Schüler zusammen (Grundschule: Jahrgang 1-5, Mittelschule: Jahrgang 6-8, Oberschule: Jahrgang 9-10).  Nach der 10. Klasse besteht die Möglichkeit, das Studium für ein dreijähriges berufsorientiertes Diplom zu beginnen. Für ein Studium an der Universität muss der Schüler nach der 10. Klasse noch zwei weitere Schuljahre absolvieren. Die allgemeine Schulpflicht für Kinder besteht zwischen dem 6. und 14. Lebensjahr.

Die Qualität der staatlichen Grundschulen in Indien ist nicht sehr hoch. Die Klassen sind häufig überfüllt, die Lehrer schlecht ausgebildet, viele Stunden fallen aus. Die Schule dauert von Montag bis Samstag, beginnt meistens um 8.30 Uhr oder um 9.00 Uhr und dauert bis 16.00 Uhr.

Die Unterrichtssprache an Schulen ist entweder die Lokalsprache (z. B. Hindi, Punjabi, Marathi, Tamil, Kannada) oder Englisch. English-Schools sind weitaus beliebter. Diese Überbetonung der englischen Sprache führt auch zu einer Vernachlässigung der eigenen Sprachwurzeln und der eigenen kulturellen Identität.

Lehrer genießen hohes Ansehen. Trotz körperlicher Strafen hatten wir gute Beziehungen zu unseren Lehrern. Die Schulen sind auch streng: vor dem Lehrer darf man nicht unanständig sitzen, rauchen oder laut reden, die Uniform ist wichtig, lange Haare oder Nägel sind nicht erlaubt. Auch die Eltern geben den Lehrern viele Freiheiten.

Daneben gibt es zwei alternative Schulmodelle: Krishnamurti-Schulen und Shanti Niketan-Schulen

 

Alternative Schulmodelle

Krishnamurti-Schulen orientieren sich an den Lehren Jiddu Krishnamurtis (1895-1986). Sie kümmern sich um die Gesamt-entwicklung eines Menschen, nicht nur um das Ansammeln von Wissen. Sein grundsätzliches Anliegen war es, die Menschen von kulturellen und religiösen Konditionierungen frei zu machen, die einer vorurteilslosen Sichtweise auf die Welt im Wege stünden. Deshalb werden Autoritäten sowohl in Form von Personen als auch von ideologischen Systemen in Frage gestellt.

Shanti Niketan-Schulen wurden von Rabindranath Tagore (1861-1941) gegründet: „Shanti niketan“ bedeutet „Hafen des Friedens“. Der Unterricht wird unter freiem Himmel gehalten; dort kann das Kind den verborgenen Reichtum seiner Seele viel leichter entfalten, denn wahre Bildung werde nicht eingetrichtert, sondern bringe den unendlichen Wissensschatz, der bereits im Innern schlummere, ans Licht.

 

Erster Kontakt mit Buchstaben

Im Alter von 3 Jahren findet die erste Begegnung des Kindes mit Buchstaben statt, die mit einer großen Zeremonie, dem Fest des Aksharabyasam (vidyarambam) gefeiert wird.

Das Kind bekommt neue Kleider und mit einem Elefanten wird eine Prozession zum Haus des Lehrers gemacht. Während der Zeremonie sitzt das Kind auf dem Schoß seines Vaters und der Lehrer schreibt mit seinen Fingern Vokale oder Buchstaben-folgen auf seiner Zunge. Danach nimmt er den Finger des Kindes und schreibt auf dem Boden alle Buchstaben der Reihe nach. Manchmal wird diese Zeremonie zusammen mit einem Gelehrten ausgeübt.

   
    Prakash Ramachandran lebt mit seiner Familie in Bozen und arbeitet seit 1996 als Bibliothekar im Benediktinerkloster Muri-Gries. Email: prakasch19@gmail.com

 

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