Abgewatscht!Jährlich brechen um die 400 Jugendliche die Schule ab. Sie sind die Bildungsverlierer und zählen zu jener statistischen Größe, über die man nicht spricht. Manuel S. (Name geändert) ist einer von ihnen. von Edith Benischek Der junge Mann mit Ohrenbart, hohem Hemdkragen und Samtjackett wirkt, als sei er soeben einem Roman von Victor Hugo entsprungen. Er ist gut aussehend, gepflegt in seinem Äußeren, wortgewandt und belesen. Irgendwie hat er etwas vom Typus des randständigen Bohemiens. Er, das ist Manuel S., 27 Jahre alt und einer von jenen Südtirolern, die durch das Bildungsnetz gefallen sind. Er wird in jener Statistik geführt, über die das Wohlstandsland Südtirol nicht gerne spricht: über die Schulabbrecher, die Verlierer unserer Bildungsgesellschaft und die Verlierer im Kampf um einen Arbeitsplatz.
Schulabbrecher oder „Dropouts“ sind jene Personen, die zwischen 18 und 24 Jahren weder eine Matura noch eine abgeschlossene Lehre und bestenfalls einen Mittelschulabschluss vorweisen können. Einer Studie des italienischen Unterrichtsministeriums vom Juni 2013 zufolge liegt die Schulabbrecherrate für die Region Trentino-Südtirol bei 15,9 Prozent. Damit liegt die Region im italienischen Mittelfeld. Im Süden ist der Schulabbruch gravierender mit Werten über 20 Prozent. Im europäischen Vergleich hatte Italien laut Erhebung des Europäischen Statistikinstituts Eurostat bezogen auf das Jahr 2012 mit 17,6 Prozent die vierthöchste Rate an Schulabbrechern. Noch schlechter fiel die Quote für Malta, Portugal und Spanien aus. Österreich lag mit 7,6 Prozent unter den sieben besten EU-Ländern.
Dahinter verbergen sich Schicksale
Diese Aussagen geben allerdings ein verzerrtes Bild wieder. Gegenüber der Südtiroler Tageszeitung erklärte Sabina Kasslatter Mur, Landesrätin für Bildung und deutsche Kultur, diese Zahlen stimmen nicht. Das italienische Schulsystem kenne die duale Ausbildung nicht. So würden jene 40 Prozent der Jugendlichen, die nach Abschluss der Mittelschule in die Berufsfachschule oder in die Lehre wechseln, in den nationalen Statistiken als Schulabbrecher geführt. Die reale Rate der Schulabbrecher, so Kasslatter Mur, beliefe sich in Südtirol auf rund zwei bis drei Prozent. Das sind um die 400 Jugendliche, die jährlich die Ausbildung abbrechen. Im Verhältnis zum restlichen Italien sind diese Zahlen derart niedrig, dass man sie für normal und unproblematisch halten könnte, würden sich dahinter nicht Schicksale von Menschen verbergen, die durch alle Raster des Bildungssystems fallen und für die sich niemand recht verantwortlich fühlt.
Das normale Leben kennt Manuel kaum. Als er die Schule abbrach, war er 19 Jahre alt. Zwei Jahre zuvor war er an eine Fachoberschule gewechselt, nachdem er eine Lehre zum Bäcker begonnen hatte, diese aber aufgrund einer Allergie abbrechen musste. Es war dies die Zeit, in der das Scheitern seine wahre Tragweite noch nicht zeigen sollte. In einem Alter, in dem andere Jugendliche im Schulalltag vom Elternhaus unterstützt werden, musste er mit seinen Problemen alleine fertig werden: der Vater, der ihn schlug, die Mutter, die vom Ehemann nicht los kam und mit der gesamten Situation überfordert war. Immer öfter kam Manuel zu spät und schwänzte den Unterricht, bis er eines Tages gar nicht mehr hinging. „Manuel zählte zu jenem Typus von Schulabbrechern, der mit dem Schulsystem nicht zurecht kam, der aber durchaus die Fähigkeiten gehabt hätte, die Oberschule erfolgreich abzuschließen“, meint einer seiner ehemaligen Lehrer.
Prävention erforderlich
Die Ursachen, die zum Schulabbruch führen, sind zahlreich und individuell unterschiedlich wie die Geschichten hinter den Einzelnen. Es wäre daher falsch, Schulabbrecher ausschließlich als dumm, faul oder Taugenichtse zu bezeichnen. Sieht man von den individuellen Umständen und den sozioökonomischen Bedingungen ab, so sind es meist Jugend-liche aus bildungsfernen oder sozial benachteiligten Schichten, die frühzeitig ihre Ausbildung abbrechen. Besonders stark betroffen sind Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf und Migrationshintergrund. Diverse nationale und internationale Studien zeigen, dass sich Investitionen in eine frühzeitige Prävention, in eine frühe Bildungs-förderung und Betreuung lohnen. Allerdings kann die Schule die Präventionsarbeit nicht alleine leisten.
Manuel erzählt von seinem Leben und davon, wie schwer die Jahre nach dem Schulabbruch gewesen seien. Wie er Schritt für Schritt den gesellschaftlichen Halt verloren habe und wie er sich irgendwann selbst nicht mehr aus der Misere habe befreien können. Die Zeit nach dem Schulabbruch streunte er ziellos herum, jobbte mal hier, mal dort, trank viel, langweilte sich, nahm Drogen und kam schließlich in eine Entzugsanstalt. Nach dem Entzug bekam er die Möglichkeit, in einer Sozialeinrichtung zu arbeiten, war aber den dortigen psychischen Anforderungen nicht gewachsen. Auf eigene Faust versuchte er sein Glück im Ausland. Auch dort scheiterte er.
Mittelschulabschluss reicht nicht
Junge Menschen wie Manuel haben nichts davon, dass es der Südtiroler Wirtschaft an Fachkräften mangelt. Der Arbeitsmarkt will sie nicht. Sie fallen in jene statistische Größe von Heranwachsenden, die sich am unteren Rand der Gesellschaft bewegen, eben weil sie keine Ausbildung haben und keine Qualifikationen vorweisen können, weil sie keine Arbeit finden oder nur eine schlecht bezahlte oder vorübergehende. Selbst wenn sich die Lage am Arbeitsmarkt künftig verbessern sollte, löst sich dieses Problem nicht von selbst. „Einfache Arbeiten werden wegrationalisiert. Die Chancen, dass ein Jugendlicher mit ausschließlich einem Mittelschulabschluss einen Arbeitsplatz bekommt, sind denkbar schlecht“, erklärt Michael Mayr, Direktor vom Amt für Arbeitsservice. „Man bedenke, die Schulabbrecher von heute sind die Langzeitarbeitslosen von morgen.“ Mayr kennt den Markt gut. Er weiß, dass es immer weniger Arbeit für Geringqualifizierte gibt. Er weiß auch, dass in Südtirol jene Personen, die einzig über einen Mittelschulabschluss verfügen, mit 47 Prozent die größte Gruppe der Arbeitslosen bilden.
Bildungsproblem mit ernsthaften Folgen
Für den Einzelnen ist das ein trauriges Los unter vielen, für den Staat und die Gesellschaft ist es langfristig ein soziales und ökonomisches Desaster. „Dropouts“ belasten den Staat meist noch zusätzlich, und den Betroffenen droht oftmals der soziale Abstieg zum Hilfsempfänger. Schulabbruch ist somit ein Bildungsproblem mit tief greifenden Folgen. Die Bildungspolitik täte gut daran, sich mit diesen Schulabbrechern intensiver zu beschäftigen, denn es müssen einige Dinge zusammenkommen, bis Menschen wie Manuel den Anschluss an die Wissensgesellschaft verlieren. Heute hat Manuel sein Leben so weit im Griff, dass er wieder den Mut hat, einen Neustart zu wagen. Er möchte eine praktische Ausbildung machen, vielleicht sogar die Matura an der Abendschule nachholen. Diesmal wolle er es nicht wieder versemmeln. „Ich will endlich jenes Leben, das für viele selbstverständlich sein mag, zur Arbeit gehen, Geld verdienen, etwas leisten dürfen und nicht am Rande der Gesellschaft dahinvegetieren“, sagt er. Edith Benischek unterrichtet an der Fachoberschule für Tourismus und Biotechnologie "Marie Curie" in Meran. |
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