Was Kinder brauchenEs ist ein Merkmal unserer Zeit, dass Wissen rasch zunimmt, aber ebenso rasch veraltet. Was heute als Errungenschaft verkauft wird, ist morgen bereits überholt. Da liegt es nahe, sich die Frage zu stellen: Was gebe ich den Kindern mit auf ihrem Weg? von Tamani Marsoner Kinder lieben es auf Bordsteinkanten zu schlendern, anstatt auf dem Gehsteig zu gehen. Sie balancieren über jeden Baumstamm, der ihnen begegnet, klettern mal kurz auf eine Mauer und springen wieder herunter. Mit Absicht machen sie den geraden Weg schwierig, verlassen sicheres Terrain und klettern in schwindelnder Höhe. Kinder meiden das Leichte, suchen das Risiko, um dabei sich selbst und die Welt zu spüren.
Lernen über Bewegung und Wahrnehmung Viele Erwachsene betrachten solche Aktionen als sinnlos und reagieren mit Ungeduld, Angst oder Sorge: Kostbare Zeit geht verloren und Gefahren könnten vermieden werden. Für Kinder hingegen ist Bewegung vor allem Ausdruck ihrer Lebensfreude, gleichzeitig auch eine Quelle, die es ihnen ermöglicht, die unmittelbare Umgebung, die Welt mit allen Sinnen kennen zu lernen. Lernen im frühen Kindesalter ist in erster Linie ein Lernen über Bewegung und Wahr-nehmung. Das Denken ist in dieser Zeit noch an das Handeln gebunden. Alltägliche Probleme werden durch den praktischen Umgang mit den Gegenständen gelöst, durch Ausprobieren, Nachahmen und Erobern der Welt. Was z. B. Gleichgewicht bedeutet, kann das Kind nur verstehen, wenn es in verschiedenen Situationen mit dem Gleichgewicht experimentiert: auf einem wackeligen Brett steht, von einem Stein zum anderen hüpft, erste Versuche mit dem Laufrad sammelt. Kinder sind auf Erfahrungen „aus eigener Hand“, sogenannte Primärerfahrungen, angewiesen. Sie erfahren die Dinge mit der eigenen Hand, den eigenen Augen, Ohren, Füßen, ihrem Körper. Es sind Erfahrungen, die sie machen müssen, damit sie die Dinge auf umfassende Weise kennen lernen und Gesetzmäßigkeiten erfassen. Durch Bewegung machen Kinder aber auch Erfahrungen über sich selbst; sie lernen ihre Fähigkeiten kennen, lernen sich einzuschätzen und gewinnen Selbstvertrauen. Erwachsene und Eltern, die das Kind bei dieser Entdeckungsreise behindern, indem sie geschwind eingreifen, belehren und sogar verbieten, verhindern nicht nur wichtige Bewegungserfahrungen, sondern schränken das Kind auch im Aufbau seiner intellektuellen, emotionalen und sozialen Entwicklung ein. Defizite in der Koordination, im Verhalten und im Denken können die Folge davon sein. Nicht durch die Vorstellung und auch nicht durch die Belehrung lernt das Kind die Welt kennen, sondern nur durch das eigene Tun.
Kinder wollen lernen Kinder wollen von Anfang an lernen. Eine innere Kraft bewegt sie stets aufs Neue, ihre Handlungsspielräume auszuloten, Dinge auszuprobieren, um ihren Horizont zu erweitern. Kein Mensch muss einem aufgeweckten Kind sagen, dass es gehen, sprechen, alleine essen, mit Freunden spielen soll. Wenn die Zeit dafür reif ist, entwickelt sich alles von alleine. Und das Kind braucht seine Eltern und engsten Vertrauten nur als Begleitende, es geht seinen eigenen Weg. Nun macht es mir oft große Sorgen, wenn ich daran denke, dass viele Kinder ihre anfängliche Lernfreude verlieren, sobald sie zur Schule gehen und eines Tages nicht mehr lernen wollen. Aus ihrem Ja zum Leben, wird für viele irgendwann ein Muss, und Kinder und Eltern leiden Tag für Tag. Der dänische Familientherapeut Jesper Juul vertritt die Meinung, dass dies nicht an einzelnen Lehrpersonen liege, die ihre Sache nicht gut machten, sondern an der Tatsache, dass im gesamten deutschsprachigen Raum ein gewaltiger Bildungsdruck herrscht. Und dieser Zustand sei auf Dauer untragbar. Der wachsende Druck lasse oft zu wenig Platz für ein wirkliches Verständnis des Stoffes und beeinträchtige auch zwischenmenschliche Beziehungen. Als Folgen nennt er resignierte Lehrer/innen, die den Druck weitergeben, aber auch verzweifelte Eltern und Kinder, die sich ständig wegen der Noten und der Hausaufgaben in den Haaren liegen. Für das Lernen benötige das Kind jedoch vertrauensvolle Beziehungen, Ermutigung und Wertschätzung. Nur dadurch entstehe echte Lernfreude, die anhält. Und diese sei unerlässlich, um auch die schwierigen Zeiten zu überstehen, wenn Kinder und Jugendliche Dinge tun müssen, die ihnen nicht gefallen. Darauf, dass die Lernfreude der Kinder erhalten bleibt, keine Negativspiralen entstehen und Teufelskreise gestoppt werden, müssen sich die Schulen vermehrt einstellen. Sie sollten sich verstärkt in dem Sinne verändern, dass Eltern und Lehrpersonen zusammenarbeiten und Schüler/innen als Partner ernst genommen werden. Aber Schule kann sich nur selbst verändern. Jesper Juul zeigt ganz konkrete Wege auf, wie man damit anfangen kann, mit Kindern und Jugendlichen Schule zu machen, damit sie voller Vertrauen ihr Leben meistern. Dazu bedarf es keiner großen Reformen; die wirklichen Veränderungen geschehen im Kleinen, kommen von Herzen und werden von allen Beteiligten gemeinsam initiiert. Auf die Beziehung kommt es an Kinder sind ursprünglich sozial. Sie haben das Grundbedürfnis, Beziehungen zu ihren Mitmenschen aufzubauen, um sich zu entwickeln. Genauer gesagt heißt das, dass sie von Beginn an das Bedürfnis haben, sich wertvoll für einen anderen Menschen zu fühlen und von ihm geliebt zu werden. Ihr Wissen bauen Kinder und Jugendliche hauptsächlich über Beziehungen auf. Ob Lernen gelingt, hängt wesentlich vom Lehrer-Kind-Verhältnis ab. Lehrpersonen, denen es wichtig ist, ihre Sprösslinge zu erreichen, bauen eine starke Beziehung auf, bevor sie mit dem Lernprogramm beginnen. Lehrer/innen, die von ihren Kindern geliebt werden, wissen das. Und genau dieses Verhalten macht sie ja zu Lieblingslehrern. Die fachliche Kompetenz einer Lehrperson sowie ihre methodischen Fähigkeiten sind wichtig, reichen aber keineswegs aus, um einen erfolgreichen Unterricht zu garantieren. Die Qualität der Beziehung sagt schlussendlich viel über den Erfolg des Unterrichts aus. Und nichts ist hilfreicher als eine gleichwürdige Beziehung von Mensch zu Mensch. Gleiche Würde für alle bedeutet nicht Demokratie zwischen Erwachsenen und Kindern. Denn die kann es nach Jesper Juul nicht geben, aber alle können sich in gleicher Würde begegnen. Das heißt, den Kindern und Jugendlichen auf Augenhöhe zu begegnen und ihnen zuzutrauen, dass sie Verantwortung für sich übernehmen können. Und genau das fällt uns Erwachsenen oft so schwer. Wir misstrauen den Kindern nämlich, aber dieses Misstrauen schwächt ihr Selbstwertgefühl. Dabei benötigen sie Vertrauen, Vertrauen und nochmals Vertrauen. Nicht das Vertrauen darauf, dass sie das tun, was wir als Erwachsene uns erwarten, sondern das Vertrauen, dass sie im Rahmen ihrer Erfahrungen gute Entscheidungen treffen. Fehlentscheidungen sind natürlich nicht ausgeschlossen. Aus diesem Grund schlägt Jesper Juul vor, ein bis zweimal im Jahr eine Feier zu veranstalten, auf der wir unser Vertrauen zum Ausdruck bringen und den Kindern wortwörtlich für ihren Einsatz und die Zusammenarbeit danken. Beziehungskompetenz erfordert somit, dass der Andere mit all seinen Empfindungen und Gedanken ernstgenommen wird. Schenken wir den Kindern unser Vertrauen, so respektieren auch sie ihre Mitmenschen. Als Lehrperson muss man bereit sein, die Kinder zur Eigenverantwortung zu erziehen. Diese übernehmen sie nur, wenn sie gern zur Schule gehen und Lernen für sie Sinn ergibt. Der viel strapazierte Gehorsam ist fehl am Platz. Menschen lieben nämlich Eigenverantwortung und lehnen es ab, gehorchen zu müssen und fremdbestimmt zu sein. Wenn Kinder zum Gehorsam gedrillt werden, ergeht es ihnen im Leben weniger gut; sie lernen nicht für ihr Leben persönliche Verantwortung zu übernehmen, suchen später den Lebenssinn oft auf anderen Wegen, befriedigen dieses Grundbedürfnis mittels Alkohol, Drogen oder Konsum. Im Konkreten heißt das, dass diese Menschen nicht Ja sagen, wenn sie Ja meinen, und nicht Nein, wenn sie Nein meinen. Hier können wir uns die Frage stellen, ob wir dies überhaupt so wollen. Denn beides – mentale Gesundheit und Gehorsam – kann man nicht haben. Persönliche Autorität entwickeln Es gibt Menschen, die an der Führung sind, und es gibt Menschen, die führen. Führungsmenschen haben eine Position, die mit Macht und Autorität versehen ist. Menschen, die wirklich führen, inspirieren uns. Das gilt auch für Lehrerinnen und Lehrer. Den Lehrpersonen, die über persönliche Autorität verfügen, folgen Kinder nicht, weil sie müssen, sondern weil sie wollen. Ein Kind weiß: Diese Person macht mich nicht „falsch“; von ihr bekomme ich etwas, an dem ich wachsen kann. Die natürliche Folge ist: Von dieser Lehrperson will es lernen, es hört auf sie. Noch vor ca. 30 Jahren herrschte die Vorstellung, dass man Kinder begrenzen müsse, dass es um Macht und Kontrolle ginge und Eltern und Lehrpersonen nur auf diese Weise ihrer Verantwortung gerecht würden. Mit der Zeit hat sich ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass es um Kontakt, Gleichwürdigkeit, Respekt, Wertschätzung und Abgrenzung geht. Und genau diese Abgrenzung macht vielen Lehrpersonen zu schaffen. Früher konnten sie Grenzen setzen, indem sie bestimmte Regeln erließen: „Dieses darfst du und jenes nicht. Das macht man so.“ Dieses „Man“ war eine große Autorität. Doch diese Autorität gibt es nicht mehr. Gemeinsame Wertvorstellungen in den Familien gibt es nicht mehr. Daher hat es wenig Sinn, solche Regeln aufzustellen. Viele Lehrpersonen sind ratlos, wenn sie feststellen, dass Kinder und Jugendliche keinen Respekt mehr vor ihrer Rolle haben. Damit Lehrpersonen ernst genommen werden, müssen sie die ehemals rollenbedingte Autorität durch persönliche Autorität ersetzen. Alle Menschen, die sich das zu Herzen nehmen und danach handeln, entwickeln eine ganz andere Ausstrahlung. Dies nehmen die Schüler/innen augenblicklich wahr, denn sie erleben einen verantwort-lichen Erwachsenen, der den Mut hat, sich zu öffnen und sich verwundbar zu machen. Wenn Lehrpersonen sich dafür entscheiden, diesen Weg zu gehen, dann treten die Veränderungen oft sehr schnell ein. Worte wie „Ich freue mich, dass ich heute hier bei euch sein darf und mit euch arbeiten kann“ oder „Danke für die Zusammenarbeit in dieser Stunde“ oder ein Schulterklopfen, begleitet vom Satz: „Ich bin stolz auf dich. In deinem Text sind viele Wörter richtig geschrieben“ oder „Du bist gerade sehr wütend, diese Aufgabe bereitet dir Schwierigkeiten“ wirken wie Balsam für die Seele der Kinder und stärken ihr Selbstwertgefühl. So wie Erwachsene sich gegenüber Kindern verhalten, so verhalten sie sich selbst gegenüber. Wenn wir das, was in den Kindern vorgeht, ernst nehmen, werden sie dies selbst einmal für sich auch tun. Fazit Wenn Lehrpersonen mit Schule einen Ort schaffen wollen, den Kinder, Jugendliche oder Erwachsene auch Jahre nach ihrer Einschulung mit glänzenden Augen betreten, wo Kinder, Schülerinnen und Schüler als Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit und ihrem Reichtum respektiert werden, dann ist es eine Notwendigkeit, dass es unterschiedliche Schulen gibt. Es gibt Schüler/innen, die in einer Klasse mit Montessori-Ausrichtung aufblühen, andere wieder fühlen sich in einem lehrergelenkten Unterricht wohl und wieder andere brauchen beides. Der Traum von einer Schule, die für alle richtig ist, beinhaltet eine große Gefahr in sich. Man muss aufpassen, dass neue Institutionen nicht alte Fehler wiederholen, indem sie genau wissen, wie sie ihre Schule gestalten wollen. Und wenn ein Kind nicht hineinpasst, wird es schon wieder als „falsch“ angesehen. Gemeinsam haben „gute“ Schulen eines: Die Lehrpersonen schaffen eine Umgebung, in der jedes Kind den Lern-gegenstand eigenverantwortlich und in seiner „Eigenzeitlichkeit“ bearbeiten und begreifen darf. Lernprozesse stehen im Mittelpunkt und nicht das Ausspucken des Stoffes auf Kommando. Befragt man Fachleute der Industrie, dann antworten diese, dass sie verantwortungsvolle, starke Persönlichkeiten brauchen, die kreativ sind und mitdenken und nicht angepasst sind. Wegweisend ist auch der Perspektivenwechsel: Weg von einem Defizitansatz und hin zu einem ressourcenorientierten Ansatz. Kritik hemmt allzu oft die Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls. Man fühlt sich nicht in Ordnung. Zudem hat jedes Kind auch das Recht auf Misserfolg, nicht immer nur zu leisten und sein Bestes zu geben. Manchmal sind Menschen, bei denen im Rückblick alles erfolgreich und zielstrebig erscheint, in Wirklichkeit ziemlich weite Umwege gegangen, z. B. lebte Joanne K. Rowling von Sozialhilfe, als sie in einem schottischen Café den ersten Band von Harry Potter schrieb. Natürlich wünscht keine Lehrperson einem Kind oder Jugendlichen Misserfolg. Wichtig ist nur, dass Kinder lernen, Fehlschläge zu akzeptieren, dennoch auf sich zu vertrauen und nicht jede Abweichung vom geraden Weg für einen Misserfolg zu halten. Denn oft kommen wir über Umwege ans Ziel oder an einen vielleicht noch schöneren Ort, von dem wir beim Starten noch gar nichts wussten.
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