Wohin des Weges?

 

Die Grundsatzfrage für Jugendliche ist schwarz/weiß: arbeiten oder Schule gehen? Die Antwort darauf benötigt aber eine differenzierte Betrachtung, denn allzu oft bleiben wir an der Oberfläche hängen. Vorurteile und Image beeinflussen unsere Meinungen und überlagern oft sachliche Argumentationen.

von Johannes Kofler

 

Daniel (Name geändert) ist ein sympathischer Junge. Er ist 16, aufgeweckt und beliebt. Er hat viele Talente. Und er kämpft sich durch die erste Klasse des Gymnasiums, an dem ich unterrichte – schon zum zweiten Mal. Es sieht nicht gut aus. Immer wieder führe ich Gespräche mit ihm, mit seinen Eltern. Der Vater sagt, wenn es denn gar nicht gehe, müsse er halt arbeiten gehen. Er versteht es als eine Drohung, der Junge daneben verzieht das Gesicht. Was er denn eigentlich wolle? Er weiß es nicht, Schule gehen halt. Als im Mai das Scheitern konkret wird, ringt sich die Familie zu einem Praktikum in einem Handwerksbetrieb durch. Ich sehe den Jungen nicht mehr. Was er wohl heute macht?

 

Oben und unten?

Der Fall ist alltäglich, aber er bringt mich zum Nachdenken. Was wäre wenn? Was wäre gewesen, wenn der Schüler gleich eine Berufsschule besucht hätte? Hätte er dann diese zwei Jahre nicht vergeudet? Waren sie überhaupt vergeudet oder ist das ein notwendiger Prozess in der Orientierung? Macht unsere Schule was falsch, ist sie zu abgehoben, theoretisch? Eines ist klar: „arbeiten“ hat unter unseren Schülerinnen und Schülern kein gutes Image, obwohl ja doch alle arbeiten wollen – irgendwann. Die Berufsschule? Na ja, last exit, nur im Notfall. Das führt zu vielen Selbstlügen, befeuert von ambitionierten Eltern, sanktioniert von uns Lehrerinnen und Lehrern. Schließlich haben wir es ja geschafft, wir sind erfolgreiche Absolventen eines Bildungsweges, der als „höher“ eingestuft wird.

 

Das reale Leben

Ich gehe nach Hause, feuere meinen Ofen an, den der Hafner meines Vertrauens gebaut hat. Schaue aus dem Fenster mit Isolierglas, zum Glück immer noch „made in Südtirol“, esse einen Apfel aus dem Vinschgau und rufe den Hydrauliker an, damit er einen Blick auf den tropfenden Wasserhahn werfen möge. Handwerk, Industrie und Landwirtschaft genießen gar kein so schlechtes Ansehen in unserem Land. Das gilt zwar nicht für alle Bereiche, doch insgesamt lässt sich sagen, dass die Gesellschaft die Bedeutung der Sektoren anerkennt. Körperliche Arbeit ist nicht stigmatisiert, zumindest offiziell. Doch der Trend in unserer Wohlstandsgesellschaft scheint in eine andere Richtung zu laufen.

 

Der Schule „entkommen“?

Dabei bietet „arbeiten“ für viele Jugendliche auch eine Perspektive der Freiheit und Unabhängigkeit. Viele träumen davon, endlich das erste eigene Geld zu verdienen, nur weg von zuhause, fort aus der Abhängigkeit von der Schule! Nur ist oft nicht klar, wohin der Weg führen soll. Außerdem entkommt man der Schule gar nicht so leicht, auch in der Landwirtschaft oder auf dem Bau ist eine gute schulische Ausbildung selbstverständlich. Die Bildungspflicht bis zum 18. Lebensjahr stellt zudem so manchen vor eine große Herausforderung. Es ist klar: Die Trennung zwischen „Arbeiten = Freiheit“ und „Schule = Abhängigkeit“ verliert zunehmend an Klarheit. Besonders angelernte Jobs bieten häufig eine derart schlechte Entlohnung, dass die Freiheit Illusion bleibt.

 

Migration und Arbeit

Ein Aspekt ist das Phänomen Migration. Unverblümt gesagt: Einwanderer/innen machen schlecht bezahlte Arbeiten mit schlechtem Image und drücken Entlohnung und Image noch weiter nach unten (genauer: Wir tun dies.) Wer etwas auf sich hält, grenzt sich da nach unten ab. Darin steckt sozialer Sprengstoff. Ein Extrembeispiel einer falschen gesellschaftlichen Entwicklung dringt derzeit in unser Bewusstsein: In Katar, dem Land der Fußballweltmeisterschaft 2022, stammen laut österreichischer Zeitschrift „Der Standard“ 94% aller arbeitenden Menschen aus dem Ausland. Nur 2% davon sind hochqualifiziert. Zum Teil werden sie wie Sklaven gehalten, wie etwa „The Guardian“ und der „Spiegel“ berichteten. Der Tod von ca. 50 Arbeitern auf WM-Baustellen hat international Staub aufgewirbelt. Zugegeben, das hat mit der Südtiroler Realität wenig zu tun, doch darf es unserer Gesellschaft und unserem Bildungssystem als Fanal gelten. Warnsignale gibt es jetzt schon: Die Zahlen zeigen, dass zwar der Anteil von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund an den Schulen in Südtirol rasant steigt. An den Gymnasien sind sie aber unterrepräsentiert, während sie in der Berufsschule stark vertreten sind. Niedrig qualifizierte Jobs sind zunehmend eine Domäne von Nicht-EU-Bürgern.

 

Mehr Bildung = mehr Lohn?

Ein anderer Gesichtspunkt sind die Lohnvorstellungen junger Leute. Die enttäuschte Statusmeldung einer jungen Frau auf Facebook bringt es auf den Punkt: Nach absolviertem Jurastudium und geschaffter Anwaltsprüfung schreibt sie: „Jus studieren, um dann an Hunger zu sterben?“ Gewiss pointiert, aber viele Universitätsabsolventen schlagen sich jahrelang mit Praktikantenstellen herum – für wahre Hungerlöhne. Längst gilt nicht mehr, was lange als ausgemacht galt: Je höher der Bildungsgrad, desto besser die Berufsaussichten, desto mehr Gehalt. Dabei liegt es in unserem Land gar nicht so sehr daran, dass wir generell überqualifiziert wären und der Arbeitsmarkt von Hochgebildeten überschwemmt würde. Nach wie vor ist der Anteil der Hochschulabsolventinnen und -absolventen an der Gesamtbevölkerung in Südtirol im europäischen Vergleich weit unterdurchschnittlich (AUT 19%, GER 26%, SUI 35%, Südtirol 10%). Das Problem liegt eher an der ungleichen Verteilung. Der Arbeitsmarkt ist für spezialisierte Arbeitskräfte in manchen Bereichen noch immer unterversorgt, andere Bereiche sind überlaufen.

 

Diskrepanz in der Wahrnehmung

Viele junge Menschen scheinen diese Realität nicht wahrzunehmen. Nach wie vor klingt „Oberschule“ in ihren Ohren besser als „Berufsschule“, „Gymnasium“ besser als „Technologische Fachoberschule“. Das gilt ganz besonders für Mädchen. Sie tendieren stark zur Allgemeinbildung, bevölkern Kunstgymnasien und die Fakultät für Bildungswissenschaften in Brixen. Ihnen drohen trotz bester Bildung schlechte Berufschancen. Aber viele junge Menschen nehmen das in Kauf, da „arbeiten gehen“ oft als sozialer Abstieg empfunden wird. Dabei bieten Arbeitsbereiche abseits der klassischen „Brotstudien“ (BWL, Jus, Politikwissenschaft) in unserem Land viele Berufs- und Verdienstmöglichkeiten. Ein Beispiel sind technische Berufe im Bereich der Alpintechnologie oder Dienstleistungsberufe im gehobenen Tourismus. Es muss also gelingen, die Jugendlichen frühzeitig zu informieren und ihre Interessen mit den Chancen auf dem Arbeitsmarkt in Einklang zu bringen.

 

Lösungsansätze

Dieses Ziel kann nur langfristig erreicht werden und muss auf vielen Schienen angefahren werden. Zum einen braucht es Imagekampagnen. Dazu gibt es bereits viele erfolgreiche Beispiele, etwa die vielbeachteten Berufsweltmeisterschaften. Zum anderen braucht es eine sozial verantwortungsvolle Migrationspolitik im Bereich der Bildung. Schwach gebildete Randgruppen für ungeliebte Jobs gefährden langfristig den sozialen Frieden. Ein weiterer Ansatzpunkt sind realistische und offene Informationsangebote für Mittelschüler/innen. Leider liefern sich die verschiedenen Schulen in der Oberstufe einen völlig kontraproduktiven Wettbewerb um Neueinschreibungen. Das verzerrt den Informationswert, denn welche Schule möchte von sich schon sagen, dass sie den Weg in ein brotloses Gewerbe bahnt? Hier braucht es mehr Kooperation zwischen den Schulen.

 

Mehr Durchlässigkeit gefordert

Aber es geht dabei auch um Lehrstellen und Ressourcen. Sinkende Einschreibungen bedeuten eben häufig Stellenverlust. Dabei erweist sich das zum Teil zersplitterte Schulwesen als Krücke. Neben den staatlichen Schulen stehen die Privat- und die Landesschulen. Zwischen diesen Schultypen gibt es kaum Mobilität für Lehrkräfte. Unterrichtserfahrungen in einer Berufsschule zählen beispielsweise überhaupt nichts für die so notwendigen Ranglisten in den staatlichen Schulen. Man muss sich also gleich zu Beginn einer Laufbahn als Lehrkraft für eines der Systeme entscheiden. Ein einheitliches Lehrer/innendienstrecht könnte hier Abhilfe schaffen und den Konkurrenzkampf abmildern. Dagegen stehen aber staatliche Vorgaben und zum Teil auch der Widerstand aus der Lehrer/innenschaft selber. Man fürchtet eine Schlechterstellung, wenn alle in einen Landeskollektivvertrag rutschen. Die Gewerkschaften sehen das sehr kritisch und so konnte dieser langgehegte Wunsch von Landesrätin Sabine Kasslatter Mur nicht umgesetzt werden. Man wird sehen, was die neue Landesregierung bringt.

 

Erfolgsmodell Berufsmatura?

Eine große Veränderung in unserer Schullandschaft bringt die sogenannte Berufsmatura. Auch hier gibt es kritische Stimmen, doch scheint das Konzept (siehe Beitrag S. 7) vielversprechend. Sie wird aller Voraussicht nach auch die Frage nach Arbeit oder Schule beeinflussen, denn die Antwort darauf muss angesichts offener Bildungswege auch in den Berufsschulen, nicht schon in der Mittelschule gegeben werden. Ab dem nächsten Schuljahr ist es auch in diesem Schulzweig unter bestimmten Bedingungen möglich, die staatliche Abschlussprüfung zu absolvieren und einen Weg darüber hinaus einzuschlagen. Bereits jetzt scheint diese Botschaft anzukommen, denn schon bevor das entsprechende Abkommen mit dem Staat 2013 unterzeichnet wurde, verzeichneten die Berufsschulen stetigen Zulauf. Dies wurde durch die Umstrukturierung der Schultypen noch gefördert. Ob die Berufsmatura ein Erfolgsmodell ist, kann nur die Zukunft zeigen, doch angesichts oben ausgeführter Entwicklungen ist dies wohl ein Schritt in die richtige Richtung.

 

Der Mensch bleibt Mensch

Ungeachtet aller angeführten Argumente, die Jugendlichen zu vernünftigen Bildungsentscheidungen anzuhalten, bleibt doch die Feststellung, dass der Mensch nicht allein aus Vernunft besteht. Der deutsche Ökonom und Philosoph Wilhelm Röpke prägte den Satz: Das Maß der Wirtschaft ist der Mensch. Karriere und ein guter Verdienst sind nicht die einzigen Messlatten für ein glückliches Leben. Eine freie Gesellschaft muss auch unvernünftige Wege akzeptieren – sie führen oft über bunte Umwege zu herzerwärmenden Ergebnissen.

Das mag sich auch Daniel gesagt haben. Kürzlich kam er bei uns in der Schule zu Besuch. Er hat sich zum dritten Mal in die erste Klasse eingeschrieben, diesmal in einer anderen Oberschule. Neuer Versuch, neues Glück.

 

 

 
 

Johannes Kofler unterrichtet am

Sozialwissenschaftlichen-, Klassischen-, Sprachen- und Kunstgymnasium in Meran.

 

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