Wir und die anderenEinst verklärt oder beargwöhnt, jetzt eine Pflichtübung im Knigge des politisch korrekten Unterrichts: interkulturelle Kompetenz zwischen Rahmenrichtlinien, Überforderungen und Lebenspraxis.von Hans Karl Peterlini Aus dem Schulalltag
Wie idyllisch war doch die Erziehung zu Toleranz, die engagierte Lehrer/innen vor 20, 30, 40 Jahren erfüllte – man konnte Plakate zum Elend in den Favelas malen, die Apartheid in Südafrika thematisieren, die Gleichheit aller Menschen unabhängig von Hautfarbe und Herkunft zum ethischen Richtmaß machen. Das Fremde war fern und exotisch, es rührte an Nächstenliebe und Humanität, verführte freilich auch zu einer unreflektierten, weil praktisch nicht auf die Probe gestellten Selbstgerechtigkeit: Andere Kulturen lassen sich leicht wertschätzen, wenn diese Anderen nicht in derselben Klasse sitzen oder sich rempelnd auf dem Schulweg breit machen. Schwerer hatte es schon seinerzeit der nahe Fremde, etwa wenn eine Tochter einen Italiener heimbrachte oder Kinder aus mehrsprachigen Familien ihre Identität klären sollten.
Dilemma Normalität Schon die Rede vom Anderen, für den wir uns und unsere Schüler/innen kompetent machen sollen, zeigt ein Dilemma interkultureller Pädagogik auf: Es steht unbewusst sehr schnell fest, wer die oder der Andere ist – dann wird von einem intakten „Wir“ der Normalen ausgegangen, das sich großzügig öffnet für die Begegnung mit jenen, die anders sind. Dass auch diese „wir Normalen“ im Wechsel der Perspektive „die Anderen“ sein könnten, ja dass „jede/r anders anders ist“ (nach Paul Mecheril), dass letztlich jede Kultur transkulturell ist, können wir theoretisch mit einigem Bemühen nachvollziehen. Im gelebten Umgang setzt sich meist – und erst recht bei Konflikten – das einfachere Muster durch: Normal ist, wer auf das überlegene Gruppen-Wir verweisen kann: die Kultur der Mehrheit, der sozial Bessergestellten, der körperlich und kognitiv voll Leistungsfähigen.
Mit den Rahmenrichtlinien für die Oberstufe hat interkulturelle Kompetenz 2010 in Südtirol formal Eingang in die Curricula gefunden. In Fokusgruppen für eine Implementationsstudie des deutschen Schulamtes (Siegfried Baur/H. K. Peterlini 2011, unveröffentlicht) traten massive Unsicherheiten in der Definition und im Umgang mit diesem Novum auf. Geradezu ratlos machte die Frage der Bewertung: Wie soll man interkulturelle Kompetenz messen, wenn die einzige „andere“ Person in der Klasse womöglich die Italienischlehrkraft ist? Kann man einer Schülerin interkulturelle Kompetenz abstreiten, weil sie mit einem „ausländischen“ Mitschüler nicht zurechtkommt? Und verletzt dies nicht politische Grundrechte, zu denen auch das Recht auf national oder ethnisch betonte Haltungen gehört?
Horizonte überschreiten In einer Studie der Universität Innsbruck (Lynne Chisholm/H. K. Peterlini 2012) erwies sich interkulturelle Kompetenz in Südtirol als mehrfach belastet und dadurch um seine freudvollen, bereichernden Momente gebracht. Interkulturell offen sein zu müssen, bewirkt eher das Gegenteil, macht eine Pflichtübung aus dem, was gerade Jugendliche oft jenseits ihrer bewussten Überzeugungen am Ende doch sind: befähigt und motiviert, auf Neues und Fremdes zuzugehen, sich darauf einzulassen. Das muss nicht „der Ausländer“ sein, es kann ein Entdecken bis dahin nicht gekannter Seins- und Identitätsmöglichkeiten sein, ein Erleben von Welt außerhalb der ritualisierten Gewohnheiten, die vielfach als „eigene Kultur“ missverstanden werden. In einer solchen Sichtweise würde interkulturelle Kompetenz als Überschreiten der jeweils eigenen Horizonte erlebt.
Konstruierte Unterschiede Kein Rezept, auch kein didaktischer Kniff, wohl aber ein immer neu zu versuchender Königsweg zu interkultureller Kompetenz kann das Erzählen und Erzählenlassen des Eigenen und des Anderen sein. Das überraschendste Ergebnis eine Befragung junger Südtiroler Schützen und Marketenderinnen war, wie im Erzählen hinter ethnozentrischen Kraftsprüchen und teilweise auch Drohgebärden plötzlich auch das Andere als Eigenes sichtbar wird, sich im vermeintlich Fremden etwas von einem selber finden lässt. Das zaubert monokulturelle Haltungen, Feindseligkeiten und Ängste nicht weg, aber es kann sie lindern. Es kann den Blick öffnen dafür, dass die eigene Angst möglicherweise auch die Angst des Anderen ist, dass sich in der vermeintlichen Gewalttätigkeit des anderen auch die Gewalttätigkeit des Eigenen spiegelt, dass junge Albaner, die rempelnd des Weges kommen, nicht recht viel anders sind, als Halbstarke der eigenen Kultur, dass viele Unterschiede nicht „natürlich“ sind, sondern kulturell und sozial konstruiert.
Lebensaufgabe anstatt Unterrichtsstoff Interkulturelle Kompetenz lässt sich nicht allein als Wissensstoff vermitteln; sie bedarf der reflektierten Selbsterfahrung von Lehrenden und Lernenden, für die eigene Settings anzudenken wären. Sie braucht Zeit, sie muss im Kontext mit den nicht-formalen und informellen Lernprozessen gesehen werden, in denen sich vielfach Perlen interkultureller Kompetenz finden lassen. Das erfordert Respekt auch vor der Angst, die jede Öffnung und Reflexion eigener Muster mit sich bringt. Nur als zusätzliche Kompetenz, die im fachübergreifenden Raster abgehakt wird, kann interkulturelle Kompetenz sinnvoll weder vermittelt noch gefördert werden. Sie ruft, wie Kompetenzen überhaupt, nach einer Wiederentdeckung von Lernen jenseits festgelegter Ergebnisse, als Prozesse individueller und sozialer Bildung und Beziehung, in denen sich Schüler/innen und Lehrkräfte als Lernende riskieren und an deren Ende „wir“ nicht dieselben sein können wie vorher. Insofern ist interkulturelle Kompetenz eine Lebensaufgabe.
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