Auf dem Weg zum selbstverantwortlichen Lernen

 

Am Oberschulzentrum Sterzing haben alle Schülerinnen und Schüler seit drei Jahren die Möglichkeit, Förderangebote innerhalb der regulären Unterrichtszeit in Anspruch zu nehmen. Ein innovativer Weg, den sich „forum schule heute“ von Direktor Andreas Meraner und der Vizedirektorin und Mathematiklehrerin Sybille Mitterhofer genauer vorstellen ließ.

  

f   Herr Direktor Meraner, wie würden Sie Förderunterricht definieren?

Meraner: Wir haben im Lehrerkollegium eine Definition zum Förderunterricht geschaffen, da heißt es zum Ziel des Förderunterrichts: Angebote zur Begabungs- und Begabtenförderung, Angebote zum Aufholen von Lernrückständen, Projekte im wissenschaftlich-technologischen sowie im sprachlichen und wirtschaftlichen Bereich, Vertiefung des verpflichtenden curricularen Unterrichts und Erwerb der übergreifenden Kompetenzen laut Bildungsprofil.

Entstanden ist die Idee im Rahmen der Oberstufenreform, und weil wir mit dem herkömmlichen Modell der Förderung am Nachmittag unzufrieden waren, haben wir neue Wege gesucht. Alles, was außerhalb der regulären Unterrichtszeit angeboten wurde, war für die Schüler/innen wenig interessant und wurde zu wenig genutzt. Wir haben im Direktions-rat verschiedene Modelle und Ideen geprüft und Kollegin Mitterhofer hat sie durchgerechnet und herausgefunden, dass es einen gangbaren Weg gibt.

Mitterhofer: Wenn wir alle didaktischen Unterrichtseinheiten um 10% kürzen, haben wir die nötigen Zeitressourcen zur Potenzierung des fächerübergreifenden Lernangebots.

Meraner: Das heißt, wir haben Lernhilfen und Begabungsförderung in den Vormittag verlagert, weil da alle Schüler/innen und die Lehrkräfte im Haus sind.

War das Lehrerkollegium mit diesem Konzept sofort einverstanden oder hat es da besondere Überzeugungsarbeit gebraucht?

Meraner: Wir haben das Rohkonzept vorgestellt und uns vom Lehrerkollegium den Auftrag geben lassen, uns weiter damit zu beschäftigen. Wir haben die Kollegen auch darauf hingewiesen, dass die dem Fachunterricht entnommene Zeit für die Potenzierung des fächerübergreifenden Unterrichts gebündelt genutzt wird, so dass die individuelle Unterrichtszeit dadurch nicht geschmälert wird.

Mitterhofer: Hilfreich war auch, im Stundenplan mehr Doppelstunden vorzusehen. Das hat den Vorteil, dass die Schüler/innen mitunter nur drei Fächer pro Tag vorzubereiten haben.

Meraner: Grundlegend war auch die Idee, dass die Schüler/innen die Angebote wöchentlich variieren können. Da uns Anmeldelisten auf Papier nicht mehr weiterhelfen, hat die Schule ein eigenes  EDV-gestütztes Programm entwickelt, über das die Schüler wöchentlich die Angebote wählen und buchen können.

Mitterhofer: Der Hintergedanke war ja auch, dass die Schüler/innen selbstständiger werden, Verantwortung  übernehmen und reflektieren: Wo brauche ich Hilfe? Was interessiert mich?

Meraner: Angebote im Bereich der Begabtenförderung können auch monatlich, für zwei Monate oder für ein ganzes Semester gewählt werden.

Kommt es auch vor, dass ein Schüler nichts wählt und nichts macht? Und wie wird das überprüft?

Mitterhofer: Wenn sich jemand nicht innerhalb Donnerstag für die Folgewoche anmeldet, wird er am Freitag zugewiesen. Der entsprechende Aufwand war anfangs enorm, mittlerweile haben wir das besser im Griff, die Schüler/innen werden auch immer zuverlässiger. Wertvolle Hilfe leisten dabei auch die zwei Koordinatorinnen Corrie Smid Cuel und Brigitte Blasbichler.

Wie wird der Förderunterricht konkret organisiert?

Mitterhofer: Wir waren eigentlich selbst überrascht, wie reibungslos das funktioniert: Am Dienstag und am Donnerstag wird der Klassenverband für je 2 Einheiten aufgelöst; die Schüler/innen begeben sich zu den von ihnen gewählten Angeboten. Jede Lehrperson erhält wöchentlich eine Liste mit den Namen der Schüler/innen, die ihren Kurs besuchen. In jeder Klasse hängt eine Übersicht, aus der hervorgeht, für welches Angebot in welcher Stunde sich die einzelnen Schüler/innen entschieden haben und in welchem Raum dieses stattfindet.

Gibt es besonders nennenswerte positive Rückmeldungen oder auch Pannen zu verzeichnen?

Mitterhofer: Wir haben nach dem 1. Jahr eine Evaluation durchgeführt und das Ergebnis war, dass wir das weiterführen sollen. Es hat Verbesserungsvorschläge gegeben, die wir aufgegriffen und eingebaut haben. Ein besonders positiver Nebeneffekt ist, dass die Schüler/innen unterschiedlicher Fachrichtungen viel mehr miteinander kommunizieren und auch Gelegenheit dazu haben. Für die Schulgemeinschaft ist das wiederholte Auflösen des Klassenverbandes enorm wichtig.

Meraner: Wir optimieren fortlaufend. Es braucht Nachjustierung, die wir permanent vornehmen.

Mitterhofer: Besonders die Schüler/innen der 1. Klassen lassen sich am Anfang des Schuljahres von der Fülle der Angebote verlocken und lernen erst mit der Zeit zu berücksichtigen, was sie persönlich wirklich brauchen. Wir greifen z. B. ein, wenn ein Schüler Tischtennis und Fußball wählt und in Englisch und Mathematik Probleme hat. Dann sprechen wir mit dem Schüler und suchen nach einer Lösung.

Meraner:  Das geschieht durch die Lernberatung im Fachunterricht, wo die Fachlehrkraft den einzelnen Schüler auffordern kann, sich für die Lernhilfe anzumelden und diese zu besuchen. Diese Verantwortung des Fachlehrers, dem Schüler/der Schülerin durch aufmerksame Beobachtung Tipps zu geben und mit ihm/ihr in ein Gespräch zu kommen, wird zunehmend wahrgenommen.

Halten Sie Ihr Modell des Förderunterrichts für „exportierbar“? Was müsste eine Schule, die das übernehmen möchte, berücksichtigen?

Meraner: Es ist sicher übertragbar. Aber es steckt enorm viel Arbeit und sehr viel Geschichte als Prozess des Bewusst-werdens dahinter. Wenn eine Schule das machen will, braucht sie vor allem den Konsens, dass dies gemacht werden soll, die Lehrkräfte müssen überzeugt sein, sie müssen bereit sein, etwas Zeit vom reinen Fachunterricht für das erweiterte Angebot abzugeben, sie müssen flexibel sein und sich immer wieder auf neue Schüler/innen und deren Bedürfnisse einstellen.

Mitterhofer: Letztendlich war es aber auch eine Win-Win-Situation, weil sowohl die Lehrkräfte als auch die Schüler

/innen nicht zusätzlich am Nachmittag in die Schule müssen.

Andreas Meraner: Lernhilfe findet in den Fächern Italienisch, Eng--lisch, Deutsch, Latein, , Biologie, Betriebswirtschaftslehre, Mathe-matik  und bei Bedarf auch in anderen Fächern statt und ist nach Biennium und Triennium und z. T. auch nach Fachrichtung gestaffelt.
  Sybille Mitterhofer: Es kommt ja sehr häufig vor, dass eine Lehrkraft sagt: „Ich habe in der Stunde Lernhilfe in diesem Raum, melde dich bei mir an!“ Das fördert auch das Gespräch zwischen Lehrperson und Schüler/in.

Hat die neue Organisation des Förderunterrichts Erfolge gebracht, etwa im Lernerfolg der Schüler/innen?

Meraner: Um eine klare Antwort zu geben, muss man das über einen längeren Zeitraum beobachten. Wir sind jetzt im 3. Jahr, d. h. unsere Maturaklassen haben nicht den ganzen Zyklus mitgemacht, daher hinken die Vergleichswerte. Aufgefallen ist mir aber, dass die Zahl der Nachprüfungen rückläufig ist: von 16% der Schüleranzahl im Schuljahr 2009-2010 auf 8,2% im letzten Schuljahr. Aber wie gesagt, der Zeitraum ist zu kurz, um eine seriöse Aussage zu machen. Selbst wenn es so wäre, würde ich den positiven Effekt nicht nur auf den Förderunterricht zurückführen, sondern auch auf eine veränderte Einstellung sowohl der Schülerinnen und Schüler als auch der Lehrer, der Beziehung zwischen den Lehrkräften und den Lernenden.

Was wäre Ihnen noch besonders wichtig für Ihre Schule?

Meraner: Ich wünsche mir mehr Reflexion von Seiten der Schülerinnen und Schüler, was sich zwar schon abzeichnet, aber durchwegs gesteigert werden kann. Jüngere Schüler/innen wachsen in diese Optik der Eigenverantwortung hinein, die größeren sind erst in den letzten Jahren damit konfrontiert worden. Ich wünsche mir, dass sich jeder Schüler, jede Schülerin ganz gezielt das heraussucht, was er/sie braucht.

Mitterhofer: Heuer wird sich der Pädagogische Tag gezielt mit dem Förderunterricht befassen. Wir haben die Bedingungen geschaffen, was aber daraus entsteht, hängt von den einzelnen Schülerinnen und Schülern und Lehrkräften ab. Man gibt ja einen Teil der Verantwortung für das Lernen an die Lernenden ab. Das ist sehr wichtig, und diese entscheiden dann selbst, wie sie ihre Zeit nutzen möchten. Allerdings ist dabei auch Begleitung notwendig.

Vielen Dank für das Gespräch!

 Die Fragen stellte Ledi Turra Rebuzzi.

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