Auf der Überholspur

 

In den vergangenen Jahren haben sich unsere Lebensbedingungen, Erwartungen, Werte und Normen stark und vor allem auch rasant verändert. Wir leben in einer hoch technologisierten, digitalisierten, grenzenlosen Welt, die alles bietet und umso mehr fordert.

von Angelika Fauster

 

In der Vielfalt des Daseins den Gesamtüberblick nicht zu verlieren und den Glauben an sich selbst und an die eigenen Fähigkeiten zu wahren, gilt als große Herausforderung. Kinder und Jugendliche sollen das Gefühl entwickeln, dass sie sich in ihrer Welt zurechtfinden und sicher bewegen können. Sie brauchen auch das geeignete Rüstzeug, um dieser Aufgabe gewachsen zu sein.

Doch oft tendieren Eltern dazu, ihre Schützlinge durch ein riesiges Angebot an Kursen und Freizeitaktivitäten rund um die Uhr beschäftigt zu halten. Ihre Kinder sollen für sich und das Leben lernen: Sie sollen leisten und sich am Erfolg erfreuen, sie sollen Grenzen erfahren und austesten lernen, sie sollen sich an Regeln halten und Gruppendynamik erleben, sie sollen kämpferisch werden und verzichten lernen, sie sollen Stärken erleben und ausreizen, sie sollen alles kriegen, erleben und erlernen, was sie in Zukunft so brauchen werden. Heranwachsende haben somit schon bald die Aufgabe, den Erwartungen und Anforderungen ihrer Eltern zu genügen und spüren zusätzlich die Unsicherheit, ob denn das alles auch gut und ausreichend ist.

Nun stellt sich die Frage: Ab wann ist denn all das gut Gemeinte zu viel? Die Grenze zwischen gesunder Förderung und Überforderung ist fließend und dadurch schwer zu erkennen. Besonders wenn Ehrgeiz und Wetteifer den Blick auf das Erleben und Fühlen versperren, ist das Risiko groß, dass Kinder und Jugendliche überfordert werden.

Kinder haben im Normalfall ein gesundes Gespür für sich und merken, was ihnen gut tut. Sie spüren auch, wenn ihnen etwas zu viel wird und teilen dies klar mit. Aufgabe der Eltern und Lehrpersonen ist es, diesem individuellen Gespür Raum zu lassen und gesendete Signale ernst zu nehmen.

 

Gesunder Ausgleich ist wichtig

Grundsätzlich ist es wichtig, dass Freizeitaktivitäten einen positiven Ausgleich zum schulischen Alltag darstellen. Die Schule bietet für jedes Kind vielfältige Gelegenheiten, dass es eigene Fähigkeiten entdecken und weiterentwickeln kann. Es darf dabei auch mal anstrengend werden. Ein gewisses Maß an Schwierigkeiten braucht ein Kind, um Begabung zu entfalten und für sich passende Lebensstrategien zu entwickeln. Für manche Lernende stellt die Schule eine große Herausforderung dar, für alle Schüler/innen kostet sie auf irgendeine Weise Energie.

Das Gefühl, einer Aufgabe nur schwer gewachsen zu sein, wird zur Belastung, wenn es dauerhaft und in mehreren Kontexten vorkommt.

Die schnelllebige und von Reizen überflutete Welt verführt Eltern leicht dazu, ihren Kindern sehr viel zuzutrauen. Die Angst, ihre Schützlinge könnten etwas versäumen und dadurch weniger erfolgreiche Menschen werden, ist größer denn je und verstellt oft den Blick auf das Wesentliche. Die Familie ist überfordert im Einhalten all der Termine jedes einzelnen Kindes, es bleibt kaum Raum für gemeinsame Unternehmungen, für Gespräche und ruhiges Beisammensein. Grundbedürfnisse wie Nähe, Zuneigung und Liebe kommen zu kurz.

 

Zeit für sich selbst

Meistens haben überforderte Kinder und Jugendliche im Alltag auch wenig Raum für sich selbst. Jeder Tag ist verplant, zu jeder Zeit gibt es irgendetwas zu erledigen. Während Erwachsene es eher schaffen können, mit diesem Zustand umzugehen, kann er für Kinder und Jugendliche einen enormen Druck bedeuten und sie in ihrer Entwicklung stark beeinträchtigen. Ein richtiges Ausmaß an Langeweile, an absolut „leeren“ Phasen, sozusagen an Muße, ist wichtig für jedes persönliche Wachstum. Muße verschafft den Freiraum, unabhängig von fremden Vorgaben in sich hinein zu hören und eigene Neigungen zu entdecken. Außerdem denken Jungen und Mädchen, die Zeit für versonnene Selbstgespräche finden, mehr über sich und ihr Verhalten nach und lernen, ihre Zeit selbstständig und kreativ zu gestalten.

Wenn Kinder und Jugendliche keinen Raum mehr für sich haben, wenn sie die Fähigkeit sich zurückzuziehen und abzuschalten verlernt haben, kann dies dazu führen, dass sie in all dem Chaos und Trubel um sie herum, emotional vereinsamen. Sie verlieren den Bezug zu sich selbst und ihren Bedürfnissen, da sie immer nur leisten und aktiv sind. Sie entwickeln die Überzeugung: „Ich bin nur etwas wert, wenn ich Erfolg habe“. Der Zugang zu ihren Gefühlen wird nur mehr über einen Kanal definiert: den Leistungskanal.

 

Alarmsignale

Da Leistung und Erfolg so wichtig sind, entsteht eine große Angst, zu versagen oder Fehler zu machen. Diese wiederum verstärkt das Bedürfnis, immer mehr zu tun und immer bessere Leistungen zu bringen. So entsteht ein Teufelskreis, der auf Dauer psychischen Stress verursacht, wenn er nicht erkannt und unterbrochen wird.

Da diese schleichenden Überforderungen häufig gerade bei begabten und sehr aktiven Kindern und Jugendlichen vorkommen, wird der genannte krankmachende Prozess von Lehrpersonen und Eltern oft ungewollt unterstützt. Sie begrüßen den Ehrgeiz und die Motivation und wollen das Kind, den jungen Menschen bestmöglich darin unterstützen und fördern. Dies kann dazu führen, dass sich die Heranwachsenden unter ständigem Stress und Druck fühlen. Hinzu kommt die erschwerende Tatsache, dass sie wenig Zugang zu ihrem Inneren haben und somit ihr Leiden keinen Namen und keinen Ausdruck bekommt. So bleibt die Überforderung oft lange unerkannt. Alarmsignale sind schließlich veränderte Verhaltensweisen wie erhöhte Müdigkeit, sozialer Rückzug, Leistungsabfall und Konzentrationsschwierigkeiten, Interessensverlust, verändertes Essverhalten, Kopfschmerzen, Übelkeit, Schlafstörungen, depressive Züge, hohe Reizbarkeit und Aggressivität, erhöhte Ängstlichkeit, selbstverletzendes Verhalten und  Konsum von Alkohol und Drogen.

 

Indikator für angemessene Förderung

Der wichtigste und deutlichste Indikator für angemessene Förderung ist das Wohlbefinden des Kindes. Es sollte ausgeglichen und fröhlich sein und einen unbeschwerten Eindruck hinsichtlich Schule und Freizeitaktivitäten vermitteln. Es sollte genügend Möglichkeit für Ruhe und Entspannung geboten werden sowie Raum für persönliche Gespräche. Hilfreich ist, wenn das Kind verstehen darf, dass es wertvoll und einmalig ist, auch wenn es mal versagt oder Fehler macht und dass es auch dann entspricht, wenn es keine Lust hat, einen Kurs oder ein Freizeitangebot in Anspruch zu nehmen.

Wenn Alarmsignale auftreten, sollte das Kind direkt angesprochen werden. In einem ruhigen Austausch gilt es gemeinsam zu verstehen, was denn am meisten belastend ist. In der Folge soll ein neuer Zeitplan mit reichlich Pausen erstellt werden.

 
 

Angelika Fauster ist Psychologin und Psychotherapeutin für Minderjährige und Erwachsene.

thema