Eltern im Förderwahn?

 

Bildung wird in hoch entwickelten Gesellschaften immer mehr zu einer Schlüsselkompetenz sowohl für jeden Einzelnen als auch für das gesamte Gemeinwesen. Hierdurch steigt die individuelle Verantwortung für die eigene Bildungsbilanz weiter an.

von Klaus Hurrelmann

Vergleichende Studien machen deutlich, wie stark die Wirtschaft von der Bildung und Qualifikation der arbeitenden Bevölkerung abhängig ist. Im internationalen Wettbewerb zählt die Kompetenz der Arbeitskräfte und bestimmt die Produktivität und Innovationsfähigkeit eines Landes. Aber auch die Qualität des zivilgesellschaftlichen Zusammenlebens wird mit steigendem Bildungsgrad gefördert, ebenso die politische Partizipation und damit die Stärke der Demokratie. Bis hin zur höheren sozialen Kohäsion und zur niedrigeren Kriminalität reichen die Auswirkungen guter Bildung auf der kollektiven Ebene.

Auf individueller Ebene sieht es ebenso aus. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des schulischen Lernens haben sich in den letzten fünf Jahrzehnten deutlich verändert. Die soziologische Forschung spricht von einer „Individualisierung“ der sozialen Strukturen in modernen westlichen Gesellschaften. Damit ist gemeint, dass solche Faktoren wie soziale Herkunft, Geschlecht, Religion und Ethnie nicht mehr so stark wie früher über einen Lebenslauf entscheiden, sondern stattdessen die von der einzelnen Person beeinflussbaren Faktoren der Lebensgestaltung. Dem individuellen Bildungsgrad kommt hierbei eine ungeheuer große Bedeutung zu.

Vorteile durch gute Bildung

Wer eine gute Bildung hat, erzielt später ein höheres Einkommen, ist vor Arbeitslosigkeit deutlich besser geschützt, besitzt einen höheren sozialen Status und gesellschaftliches Ansehen, auch stärkeren Einfluss auf soziale Belange, partizipiert politisch kompetenter und effektiver und hat eindeutig auch Vorteile bei seiner Gesundheit und lebt länger.

Nach gesellschaftlichem Verständnis haben Kinder und Jugendliche heute die individuelle Verantwortung für Erfolg oder Misserfolg ihrer schulischen Laufbahn ganz persönlich zu tragen. Ihr persönliches Leistungsverhalten entscheidet über ihre Position in Schule und Beruf, also über die Hierarchie von Belohnungen und Statuspositionen in der ganzen Gesellschaft. Jeder Einzelne hat es nach dieser „Leistungsphilosophie“ unserer Gesellschaft in seiner eigenen Hand, was aus ihm wird. Versagen gilt als ein individuell anrechenbares Verhalten – ebenso wie Erfolg. Das Problem ist: Wer heute keinen Erfolg im Bildungssystem hat, wer zum Beispiel keinen Schul- oder Ausbildungsabschluss erwirbt, der hat weitaus schlechtere Chancen als vor 20 oder 30 Jahren, in den Arbeitsmarkt und in eine einigermaßen sichere Berufsposition hinein zu kommen. Ein Bildungsverlierer zu sein, das ist heute ein schweres Los.

Keine „Schonzeit“ für Kinder

Schulisches Leistungsverhalten war schon immer durch angeborene persönliche Vorgaben (Intelligenz, Temperament, Motivation) und das damit eng korrespondierende soziale Umfeld in der Familie mitbestimmt. Die hohen gesellschaftlichen Erwartungen schon an Kinder in der Grundschule, die Schullaufbahn möglichst erfolgreich zu gestalten, können unterschwellig zu einer psychischen, psychosomatischen und körperlichen Anspannung und Belastung führen. Viele Eltern sind heute der Auffassung, schon mit dem Eintritt in die Grundschule beginne die Berufslaufbahn ihres Kindes, werde die entscheidende Weiche für den späteren gesellschaftlichen Erfolg gestellt. Eine „Schonzeit“ für Kinder gibt es heute nicht mehr. Entsprechend nervös und unruhig reagieren Eltern schon auf die kleinsten Störungen in der Leistungskarriere und ordern bezahlten Nachhilfeunterricht, wenn die ersten schlechten Beurteilungen ihrer Kinder ausgesprochen werden. Wer unter diesen Umständen zu einem Bildungsversager wird, der steht unter erheblichem Druck.

Versagensgefühle und „Statusangst“

Durch die Bildungsexpansion der letzten Jahre bei gleichzeitiger Arbeitsmarktkrise entsteht eine große „Statusangst“ bei Eltern und Kindern. Das ist der Nährboden für Nervosität und Zukunftsunsicherheit.

Seit den 1950er-Jahren beobachten wir einen ständigen Anstieg der Anteile von Schülerinnen und Schülern eines Jahrganges, die in anspruchsvolle weiterführende Schulformen übergehen. Damit ist formal das Anspruchsniveau an Bildungsgänge und Qualifikationszertifikate angestiegen. Der Mittlere Abschluss, der heute in Deutschland von rund 40% eines Jahrgangs erworben wird, gilt immer mehr als Mindeststandard, der Hauptschulabschluss hat kaum noch einen Wert. Was wirklich zählt, ist das Abitur. Nach aktuellen Erhebungen wünschen es fast 70% der Eltern von Schulkindern für ihren eigenen Nachwuchs. Gegenwärtig schaffen am Ende der Schullaufbahn aber „nur“ rund 50% dieses hochgeschätzte Zertifikat. Die Folge: Bei vielen Jugendlichen sind am Ende der Schullaufbahn Versagensgefühle entstanden, denn sie haben das von den Eltern gesetzte Bildungsziel nicht erreicht.

Parallel zu dieser Expansion von anspruchsvollen Bildungsgängen und -zertifikaten ist etwa von 1990 bis 2009 der Arbeitsmarkt geschrumpft. Die Arbeitslosenquote lag hoch. Die objektive Chancenstruktur für Jugendliche war damit über zwei Jahrzehnte so beschaffen, dass etwa ein Fünftel der jungen Generation faktisch keine Möglichkeiten für den Einstieg in tragfähige Berufslaufbahnen hatte, vor allem diejenigen, die keine oder keine guten Bildungsabschlüsse nachweisen konnten.

Obwohl sich diese Lage seit 2010 entspannt, ist es nicht verwunderlich, dass die Elternhäuser auch heute noch sehr nervös auf Rückschläge in der Schullaufbahn und Rückstufungen in der Leistungskarriere ihrer Kinder reagieren. Zu Recht wittern Väter und Mütter hierin eine Gefährdung ihres erreichten sozialen Status. Sie sehen realistisch, dass es heute sehr schwierig ist, der jungen Generation das gleiche Niveau von wirtschaftlicher und sozialer Sicherung zu bieten, wie es für sie selbstverständlich war und ist. Wenn ihre Kinder trotz formal höherer Schulabschlüsse und besserer Schulleistungen keine aussichtsreichen beruflichen Laufbahnen einschlagen können, dann entsteht bei ihnen eine „Statusangst“, die Sorge, es könne mit Wohlstand und wirtschaftlicher Sicherheit bergab gehen.

Optimierungsstrategien als Auswege

Die Unsicherheit der Eltern überträgt sich auf die Kinder. Sie wollen im Schulsystem auf Gedeih und Verderb funktionieren und schlagen alle möglichen Optimierungsstrategien für ihre Leistungen ein. Viele folgen dem schulischen Unterricht nur mechanisch und schielen ausschließlich auf die Zensuren und Zeugnisse. So entsteht eine instrumentalisierende Haltung der Schulbildung gegenüber. Man richtet sich auf die schulische Leistungstätigkeit wie auf eine industrielle, quasi den Gesetzen von Lohnarbeit folgende Arbeit ein. Man absolviert die „schulische Lernarbeit“ mehr oder weniger zwanghaft und mechanisch. Der „Lohn“ ist das Zeugnis mit dem Tauschwert für (vermeintlich) erfüllende Erlebnisse im späteren Leben, dem „Erwachsenenleben“. Wird aber ein Abschlusszeugnis mit hohem Tauschwert im Beschäftigungssystem nicht erreicht, dann sind Frustrationen für die Selbstdefinition und in der Folge Belastungen für Selbstwertgefühl und Gesundheit vorgezeichnet. Die Schulzeit kann unter diesen Umständen im schlimmsten Fall als eine „verlorene Lebenszeit“ empfunden werden, da sie den instrumentellen Wert des Zugangs zum Beschäftigungssystem nicht einlöst.

Der gesundheitliche „Preis“

Kinder und Jugendliche haben alle diese Mechanismen der Leistungsoptimierung verinnerlicht und gehen erstaunlich pragmatisch mit den Anforderungen um. Sie zahlen dafür aber einen gesundheitlichen „Preis“.

In den Gesundheitswissenschaften gehen wir heute von einem Gleichgewichtsmodell der Bestimmung des Gesundheits-zustandes eines Menschen aus. Gesundheit ist danach die gelungene Balance zwischen den inneren Anforderungen von Körper und Psyche, die aufeinander abgestimmt werden müssen, und den äußeren Anforderungen der sozialen und physischen Umwelt, die ebenfalls miteinander harmonisiert werden müssen. Gelingt das komplexe Wechselspiel zwischen den inneren und den äußeren Anforderungen, dann kann – immer nur vorübergehend und stets prekär – das Stadium einer relativ hohen Gesundheit erreicht werden. Kommt es zu einem Übermaß von inneren und äußeren Anforderungen, denen die subjektiven Bewältigungsfähigkeiten im physiologischen, psychologischen und sozialen Bereich nicht entsprechen, dann rutscht die Balance zwischen Schutzfaktoren und Risikofaktoren ab, es kommt zu Veränderungen in Richtung einer relativen Krankheit.

Der von der Weltgesundheitsorganisation Europa initiierte „Jugendgesundheits-Survey“, der in 35 europäischen Ländern aufeinander abgestimmt durchgeführt wird, zeigt ein ungeschminktes Bild vom gegenwärtigen Zustand der Gesundheits-Krankheits-Balance bei Schülerinnen und Schülern. Danach haben wir es heute in allen westlichen Ländern mit wenigen Infektionskrankheiten und im Vergleich zu älteren Generationen auch wenigen chronischen Krankheiten bei Kindern und Jugendlichen zu tun. Viel stärker ist die Belastung durch Gesundheitsstörungen, die sich aus einer unausgeglichenen Balance zwischen inneren und äußeren Anforderungen, aus einer fehlenden Balance zwischen den Systemen Körper, Psyche, soziale Umwelt und physische Umwelt ergeben. Insbesondere sind das Ernährungsverhalten, das Bewegungsverhalten und das Stressmanagement von Angehörigen der jungen Generation in einem unbefriedigenden Zustand, so dass es in der Folge zu psycho-somatischen, sozio-somatischen und öko-somatischen Störungen der Gesundheit kommt. Ziehen wir alle Ergebnisse unserer Studien zusammen, müssen wir bei etwa 20% der Schülerinnen und Schüler mit sehr starken Beeinträchtigungen der Gesundheit rechnen, die sich hemmend oder hindernd auf die schulische Leistungsfähigkeit auswirken.

Hoher „Entwicklungsdruck“

Bildhaft kann man auch von einem hohen „Entwicklungsdruck“ der Kinder und Jugendlichen sprechen. Die Anforderungen, das eigene Leben in Familie, Schule und Freizeit zu meistern, erscheinen ihnen sehr hoch, zugleich wird von ihnen eine höchst individuelle Gestaltung ihres eigenen Lebens erwartet. Eine Fülle von Entwicklungsaufgaben drängt sich in einer kurzen Zeit; die Pubertät verlagert sich gleichzeitig immer weiter im Lebenslauf nach vorne. Dieser hohe Entwicklungsdruck wird von einem Drittel der Jugendlichen durch problematische Formen der Auseinandersetzung mit den Anforderungen aufgefangen. Die unzureichende Bewältigung von psychischen Beanspruchungen und sozialen Anforderungen nimmt zu. Viele Kinder kommen mit sozialen Konflikten, seelischen Enttäuschungen und Versagenserlebnissen nicht zurecht. Sie reagieren entweder nach innen, nach außen oder sie weichen aus. Zur ausweichenden Komponente gehört der Konsum von psychoaktiven Substanzen.

Pragmatisch-konstruktive Grundstimmung

Sowohl die World Vision Kinderstudien als auch die Shell Jugendstudien, die Sinus Milieustudie und die MetallRente Finanzstudie machen deutlich: Die junge Generation hat eine sehr realistische Wahrnehmung der Anforderungen und Chancen im Blick auf ihre persönliche und berufliche Zukunft. Zu den wichtigsten Ergebnissen der letzten Shell Jugendstudien gehört die trotz all dieser schwierigen Ausgangsbedingungen auffällig pragmatische Grundstimmung bei der Mehrheit der Jugend-lichen im Blick auf ihre eigene persönliche Zukunft. Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung wird von den Befragten als ungewiss und prekär eingestuft, die persönlichen Möglichkeiten zur Bewältigung dieser Situation durch individuelle Anstrengung und konzentrierte Lebensführung aber werden erstaunlich positiv eingeschätzt. In den letzten drei Jahren, während der Finanzkrise, ist dieser pragmatische Optimismus noch angewachsen.

Diese konstruktive Grundstimmung ergibt sich vor allem aus der hohen schulischen Leistungsmotivation. Durch hohe Bildungsinvestitionen, gute Abschlusszeugnisse und optimale Berufs- und Hochschulausbildungen wollen Jugendliche sich eine günstige Position für den Übergang in den Beruf erschließen. Sie wissen, wie schwierig dieser Übergang heute ist. Jugendarbeitslosigkeit und Konjunkturprobleme sind ihnen voll bewusst, aber sie lassen sich dadurch scheinbar nicht beeindrucken.

Belastungssymptome unübersehbar

Schauen wir genauer hin, können wir allerdings Symptome der Belastung und Anspannung erkennen. Ganz eindeutig sind sie bei den jungen Leuten zu identifizieren, die im Bildungssystem nicht mit der Mehrheit mithalten können und bei Zeugnissen und Abschlüssen schlecht abschneiden. Sie spüren ganz genau, dass es heute kaum möglich ist, mit schlechten Schul-abschlüssen in Beruf und Leben weiter zu kommen. Sie stammen meist aus Elternhäusern, in denen auch die Eltern keine guten Bildungsabschlüsse erworben haben und finanzielle Schwierigkeiten bewältigen müssen. Bei Kindern und Jugendlichen aus sozial benachteiligten und bildungsfernen Elternhäusern ist der Anteil von gesundheitlichen Störungen und körperlichen ebenso wie psychischen Krankheiten weitaus höher als im Durchschnitt. Bei ihnen häufen sich Teilleistungsstörungen, Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätssyndrome, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten bis hin zu Diabetes und Über-gewicht, Störungen des Immunsystems bis hin zu schweren Allergien oder Krankheiten wie Asthma und Neurodermitis, mangelnde Anregungen aller Sinne mit der Folge von Motorik- und Haltungsschwächen sowie psychische und psychosoma-tische Belastungen.

Aber auch bei den Leistungsstarken aus den Elternhäusern mit relativ hohem sozioökonomischem Status sind gesundheitliche Belastungen nicht zu übersehen. Sie zeigen sich in Nervosität und Unruhe ebenso wie in depressiven Verstimmungen, Aggressionen oder Medikamentenabhängigkeit. Die Anforderungen sind nun einmal sehr hoch, die sich heute an das hohe Ausmaß von Selbstorganisation und biografischem Management richten, das in der flexiblen Wettbewerbs- und Leistungs-gesellschaft verlangt wird.

 

 
 

Klaus Hurrelmann ist Professor für Gesundheit und Bildung an der Berliner Hertie School of Governance. Mehr Infos unter www.elterntraining-schulerfolg.de

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