Zwischen Förderwahn und Selbstbildungstrieb

 

Gute Bildung braucht viel Zeit, damit sich Kinder müßig und in „langer Weile“ der Vielfalt der Dinge widmen können. Dabei geben Kinder Zeugnis des Selbstbildungstriebes, der in jedem Menschen steckt, den es aber neu zu entdecken und auch zu begleiten gilt.

von Ursula Primus

 

Kinder werden heute immer früher gefördert: Babyschwimmen, zweisprachige Kindergärten, Musikstunden schon vor dem Schuleintritt – alles aus dem Wunsch heraus, dem Kind von Anfang an eine optimale Ausgangsposition zu verschaffen. Doch ist es wirklich richtig, die Kleinen schon so früh mit einem vollem Stundenplan zu konfrontieren?“ (Wolfgang Bergmann im Klappen-text seines Buches „Lasst eure Kinder in Ruhe!“)

In seinem neuen Film „Alphabet“ setzt sich Erwin Wagenhofer kritisch mit den Auswüchsen von leistungsdruckorientierten und wirtschaftlich nutzbaren Bildungssystemen auseinander, die auch vor Kindergärten nicht Halt machen, und fordert eine Abkehr von normierten Bildungssystemen. Wolfgang Bergmann ist in diesem Punkt rigoroser – er fordert ihre Abschaffung.

Bildung & Förderung

Nur: Was meint „Bildung“, „Förderung“ und mit welchem Blick soll die Höchstleistung, die der Mensch im ersten Jahrzehnt seines Lebens an Entwicklungs- und co-konstruktiven Lernprozessen vollbringt, gesehen werden? Wie soll „Bildung von Anfang an“, zum Beispiel in Kinderkrippen, Kindergärten verstanden, aufgefasst, gestaltet werden? Wie soll das „Recht auf Bildung“ (Kinderrechtskonvention, Art. 28) in Bildungseinrichtungen umgesetzt werden, ohne Angst, Leistungsdruck und Zurechtstutzen unserer Kinder?

Vielleicht nützt es, sich mit den oft inflationär verwendeten Begriffen „Bildung“ und „Förderung“ auseinander zu setzen: Bildung, abgeleitet vom althochdeutschen „bilidi“ (gestalten, nacheifern, abbilden) wird erst im 18. Jahrhundert zu einem der zentralen Begriffe der Pädagogik, wobei mit „Bildung“ zunächst die Formung der Jugend gemeint war (Kluge, S.111). Förderung  stellt ein Abstraktum dar, das, vom mittelhochdeutschen Begriff „vurdern“ abgeleitet und heutzutage mit „vorwärts bringen“ in Verbindung gebracht wird (Kluge, S. 279).

 

Wie Kinder der Welt begegnen

Wie soll nun „gute Bildung“, „richtiges Lernen“ gestaltet werden? Dank bildgebender Verfahren kann die Gehirnforschung bestätigen, was die Lernpsychologie seit Langem weiß (oder vermutete?): Alles Lernen ist ein Erfahrungslernen – gute Bildung ermöglicht also, sich die Welt fühlend, erlebend, forschend, denkend, handelnd, verstehend anzueignen. Kinder begegnen der Welt von Anfang an als Forschende, die dabei ganzheitliche Lernprozesse „mit dem Herzen und mit allen Sinnen“ (Liebertz) als „Lernstrategie“ benutzen.

Verantwortungsvolle Bildungsbegleitung muss daher auf einer Bildungsphilosophie basieren, die das kindliche Lernen ebenso als ganzheitlichen Prozess begreift und als aktiven, schöpferischen Akt, in dem das Kind seine eigenen Fähigkeiten findet – ein dynamischer Vorgang, der weder ökonomisiert, formalisiert, noch bürokratisiert werden soll. Damit kann man sich getrost von allen Fördermaßnahmen und Förderkonzepten abwenden, die ganzheitliche, co-konstruktive Prozesse vernachlässigen, keine innere Befriedigung des „Forschens“ schaffen, dafür aber Wettbewerb, Angst vor Versagen, Misstrauen in die eigenen Fähigkeiten und isolierte Wissensanhäufungen durch passiven Wissenskonsum, die wegführen von Primärerfahrungen und an deren Stelle viele Sekundärerfahrungen bevorzugen.

Selbst-Bildung im Kindesalter gestaltet sich vor allem als sozialer Prozess – soziale Interaktion, soziale Dialoge zwischen Kindern und Erwachsene bilden quasi den notwendigen Rahmen, in dem Bildungsprozesse stattfinden. Es gibt also kein „sinnvolles Lernen“ und keine „gute Bildung“, wenn „Gemütskräfte“ (ein zentraler Begriff des Kant‘schen Bildungsdenkens, auf den F. Fröbel, der „Vater“ aller Kindergärten zurückgreift) fehlen.

Kinder brauchen Bezugspersonen, die Vertrauen ins Kind und seine Selbstbildung setzen, die es annehmen, wie es ist (nicht, wie es sein könnte oder sein sollte). Pädagogen, die sich als Methodik-Didaktik-Ingenieure verstehen, die zwischen operatio-nalisierten Lernzielen, Leistungsvergleichen und zeitlicher Bildungsmaximierung jonglieren und die sich als Wissensvermittler verstehen, werden der Bildung von „Gemütskräften“ nicht gerecht, sie können jetzt schon durch Roboter ersetzt werden – Japan startete einen solchen Versuch (Süddeutsche Zeitung vom 12.03.2009). Pädagoginnen und Pädagogen „mit Kopf, Herz und Hand“, wie J. H. Pestalozzi treffend formulierte, wird jedoch immer wertvoller und unentbehrlicher werden – dieses Wissen könnte leidige Debatten über Personalschlüssel in Kindergruppen und Klassenzimmern zum Verstummen bringen.

 

Bildung braucht Zeit, viel Zeit…

Gute Bildung braucht noch etwas, was unserer Gesellschaft abhanden zu kommen scheint – sie braucht Zeit, viel Zeit, um sich müßig und in „langer Weile“ (nicht Langeweile) der Vielfalt der Dinge zu widmen, sich allen Fragen zu stellen, die Welt ganzheitlich in ihrer sinnlichen Gestalt zu erschließen.

Wer sich die Frage nach guter Bildung stellt, der sollte begleitend beobachten und fragen, „was Kinder brauchen“ – Kinder fragen in Selbstbildungsprozessen nicht nach Effektivität und nicht nach möglichst viel Lernen in kürzester Zeit. Aber sie geben ein sichtbares Zeugnis jenes Phänomens, das „Agens“ (Triebkraft) genannt wird – jener Selbstbildungstrieb, der in jedem Menschen steckt. Den gilt es neu zu entdecken und Kinder dabei zu begleiten!

Kinder wollen in ihren Entwicklungsbedürfnissen unterstützt und gefördert werden, auch in solchen, die aus Erwachsenensicht nicht für Schulkarrieren „brauchbar“ sind. Für die individuelle Entwicklung brauchen Kinder in erster Linie Geborgenheit, selbstbestimmte Entwicklungsmöglichkeiten und gute Sozialisationsmöglichkeiten.

Für Eltern, Pädagogen und Pädagoginnen in Kindergärten und im Pflichtschulbereich sei es vor allem die Aufgabe, Kinder in ihrem Anspruch auf Geborgenheit, selbstbestimmte Entwicklung und Möglichkeiten zur Sozialisation zu begleiten und zu stärken.

 

Kinderrechtskonvention

Recht auf Bildung, grundlegende Ziele von Bildung (Artikel 28, 29)

Kinder und Jugendliche haben das Recht auf Bildung. Der Besuch der Grundschule muss verpflichtend und unentgeltlich sein. Höhere Schulbildung muss vom Staat so gut wie möglich gefördert und allen Kindern zugänglich sein. Die Schuldisziplin muss so gewahrt werden, dass dabei die Menschenwürde der Kinder und Jugendlichen nicht verletzt wird. Die Bildung muss außerdem zur Entfaltung der Persönlichkeit, der Talente und der geistigen und körperlichen Fähigkeiten der Kinder und Jugendlichen beitragen und soll eine Vorbereitung auf ein aktives Erwachsenenleben darstellen.

Recht auf Freizeit, Spiel und kulturelle Betätigung (Artikel 31)

Kinder und Jugendliche haben das Recht auf Ruhe und Freizeit, auf Spiel und Teilnahme am kulturellen und künstlerischen Leben. Der Staat hat die Pflicht, Kinder am kulturellen und künstlerischen Leben voll zu beteiligen und geeignete Möglichkeiten zur Verfügung zu stellen.

LITERATUR

Bergmann, Wolfgang: Lasst eure Kinder in Ruhe. München: Kösel 2011

Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 23. Aufl., Berlin und New York: De Gruyter 1999

Liebertz, Charmaine: Das Schatzbuch ganzheitlichen Lernens. München: Don Bosco Verlag 2005

Süddeutsche Zeitung vom 13.03.2009: Saya, Roboter-Lehrerin aus Japan

Ursula Primus aus Innsbruck ist an der Fakultät für Bildungswissenschaften in Brixen für die praktische Ausbildung im Laureatslehrgang Kindergarten zuständig und hat das Kursdesign für die aktuelle Ausbildung der Praktikumstutorinnen entworfen. .

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