Erster Preis: Verlust der Leichtigkeit

 

Seine Ausdrucksweise ist gehoben. Er weiß es und bemüht sich darum. Lesen konnte er mit vier und mit viereinhalb schrieb er kleine Geschichten. Also wurde er  im September in die Schule geschickt, und  Ende Dezember feierte man stolz seinen fünften Geburtstag.

Als ich ihn kennenlernte, war er zwölf und saß mit 14 bis 15-Jährigen in der Klasse. In seinem Habitus versuchte er sich älter zu machen, aber sein Gesicht war ein Kindergesicht. Jetzt, zwei  Jahre später (er ist noch keine 15), kämpft er mit seinem Look, gestern war er Rocker, heute ist er elegant gekleidet. Und ich wünsche ihm wieder, wie so oft, er möge sein Ich finden.

Er tut  mir leid und ich bin fast sicher, dass seine ehrgeizigen Eltern, ihn fördern wollend – er war ja ein Wunderkind, unbestritten! – und um seine Begabungen nicht brachliegen zu lassen, keine wirklich gute Entscheidung getroffen haben, als sie ihn so früh ins Bildungssystem zwängten.

Seine Begabungen leugnet niemand, obwohl seine Leistungen heute zugegebenermaßen im Durchschnitt liegen, was wohl auch keine rechte Befriedigung für ein Wunderkind sein kann. Aber etwas anderes ist viel bedenklicher:  Im Bemühen, mit den Älteren mitzuhalten, blieb seine persönliche Entwicklung auf der Strecke, und ich frage mich: Ließ man ihn gedankenversunken spielen, ließ man ihm die Zeit, sich mit jemandem anzufreunden, sich in der Sandkiste mit den anderen zu balgen? Konnte er es sich leisten, einfach mal müde zu sein und lustlos oder ausgelassen und kindlich? Oder wurde er vorgeführt, Gedichte rezitierend und vorlesend?  Wenn ich sehe, wie einzelgängerisch und verkrampft er unterwegs ist, dann drängen sich mir diese Fragen auf.

Man redet viel von Kompetenzen und viel  von Begabtenförderung und übersieht manchmal, dass beides Hand in Hand gehen muss, um Einseitigkeiten zu vermeiden.

Das Training zum Wunderkind (ich formuliere es bewusst so provokant!) führt oft in eine Einbahnstraße, an deren Ende ein Fragment an Lebensfähigkeit übrig bleibt. Nach welchen Kriterien werden Hochbegabungen definiert? Die Definitionen sind kulturell bedingt und folglich an Leistungskonzepte gebunden, will bei uns heißen: Wettkampf in Sport, Wettbewerb  in Musik, Note 10 in der Schule. Nun wissen wir aber, dass die Leistungskonzepte der industriali-sierten Welt doch auch ihre problematischen Seiten haben, und wir täten gut daran, sie zumindest in der Zeit des Wachsens und Suchens  vorsichtig als Maßstab heranzuziehen.

Statt dass man besondere Begabungen fördern zu müssen glaubt, indem man ein Kind früh einschult, oder Klassen überspringen lässt (damit es ein Jahr früher… was tut?), könnte man ihm doch den Freiraum zur persönlichen Entwicklung lassen und ihm zugestehen, dass ihm etwas leichter von der Hand geht, ohne daraus ein Muss werden zu lassen.

Ich leugne besondere Begabungen nicht, ich bin auch nicht der Meinung, dass man sie brachliegen lassen soll, aber ich plädiere dafür, Kindern und Menschen, die sich „leicht tun“, wie man so schön bei uns sagt, ihre Leichtigkeit zu lassen und dafür zu sorgen, dass sie sich daran erfreuen können.

 

Fanni. A. Storch

 

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