50 Jahre Einheitsmittelschule  

 

Ganz im Zeichen der Einheitsmittelschule, die in Italien am 31.12.1962 und in Südtirol etwas verspätet am 1.10.1963 eingeführt wurde, standen der 17. und 18. Dezember 2013 an der Fakultät für Bildungswissenschaften in Brixen.  Die einhellige Meinung der Referentinnen und Referenten dazu lautete, dass man heute auf das, was sich daraus entwickelt hat, stolz sein könne.  

von Rosa Monika Laimer

 

Die Mittelschule – so Siegfried Baur, Professor für Allgemeine Pädagogik und Sozialpädagogik an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Freien Universität Bozen – sei auf das Wirtschaftswunder der 50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts zurückzuführen, das in Italien durch die Migrationsströme von Süd nach Nord und die Benachteiligung peripherer Gebiete immer größere wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten schuf. In dem Bewusstsein, dass die Entwicklung der gesamten Gesellschaft von der Bildung eines jeden Einzelnen abhänge, verlangte  man nach einer einheitlichen Schule, nach einer echten Schule des Volkes, die höhere Bildung für alle ermöglichen sollte.

 

“Meglio un asino vivo che…”

Wie Rainer Seberich, seinerzeit Inspektor am deutschen Schulamt in Bozen, ausführte, wurden in Südtirol in den Jahren 1962 und 1963 erste Versuchsklassen eingeführt sowie Mindestprogramme und methodisch-didaktische Richtlinien verabschiedet. Mit großer Begeisterung habe man Fortbildungskurse veranstaltet, zu denen auch ausländische Referenten angereist seien, die erstmals die Gruppenarbeit  als Methode vorgestellt hätten.

Das Vorhaben gestaltete sich als Zerreißprobe für das deutsche Schulamt. In allen Gemeinden über 3000 Einwohner sollten Mittelschulen errichtet werden. Dabei standen weder Räume noch Direktoren und Lehrkräfte zur Verfügung, womit die Einführung der Mittelschule auch als Geburtsstunde der Supplentinnen und Supplenten angesehen werden kann.

Viele Schülerinnen und Schüler hätten nicht im Ort gewohnt und seien auf Zubringerdienste angewiesen gewesen. Eine Genehmigung dafür sei nur in Trient und unter der Voraussetzung erteilt worden, dass Straße, Lenker und Fahrzeug als geeignet erachtet worden seien. Nach dem Leitspruch: „Meglio un asino vivo che un dottore morto“ habe man nicht aufgegeben und sich Schritt für Schritt voran gearbeitet. Die neue Mittelschule hatte zudem – so Rainer Seberich und Rudolf Tasser - nicht wenige Gegner, die einen kulturellen Niedergang befürchteten oder ganz einfach nicht den Sinn für ein so langes Studium einsehen wollten. Auch manche Kinder seien nicht begeistert gewesen, z. B. der Bub, den die Carabinieri auf Geheiß von Direktorin Maria Luise Fischer zwar dazu gebracht hätten, in die Schule zu kommen, der aber aus Protest nie ein Heft oder ein Buch in die Hand genommen habe.

Die Mittelschule habe sich dank des Einsatzes von jungen Lehrerinnen und Lehrern, die sich im ASM organisiert hätten, behaupten können.

Für die ladinische Schule stellte sich, wie Theodor Rifesser als Kenner des ladinischen Schulmodells ausführte, die Frage, welche Sprache im Unterricht  vorherrschend zu verwenden sei. Nach der Zwangsverdeutschung der ladinischen Schulen ab 1916 durch die österreichische Militärregierung  und ab 1943 durch die Nationalsozialisten und nach der Zwangsitalieni-sierung ab 1921 durch den italienischen Faschismus gab es nach dem 2. Weltkrieg endlose Diskussionen um ein geeignetes Schulmodell. Aufbauend  auf dem 1. Autonomiestatut von 1948, das den Ladinern das Recht auf Ladinischunterricht zubilligte, entstand mit der neuen Mittelschule ein paritätisches Modell, das festlegte, welche Fächer in den verschiedenen Sprachen unterrichtet werden sollten.

 

„Eine Schule für alle“

Die Einheitsmittelschule bildete die Grundlage für „eine Schule für alle“, wie Edith Brugger-Paggi, Expertin für Integrationspädagogik und Integrative Didaktik, in ihrem Referat betonte. Bemerkenswert für die damalige Schule sei auch die im Übrigen heute noch höchst aktuelle Forderung nach Individualisierung und Differenzierung gewesen. Eine größere Heterogenität und eine höhere Komplexität machten von Anfang an entsprechende Maßnahmen erforderlich, doch erst 1977 habe man mit der flächendeckenden Integration von Schülerinnen und Schülern mit Beeinträchtigungen begonnen, wobei sich im Laufe der Zeit die Vielfalt an individuellen Bildungsbedürfnissen wie auch die Wahrnehmung dieser Bedürfnisse durch die Lehrpersonen erweitert habe. Eine hohe Herausforderung für alle, aber ein Weg, den es mit Nachdruck weiterzuverfolgen gelte. Maria Luise Fischer, ab 1988 Inspektorin für den sprachlich-expressiven Bereich, wies auch auf die neue Bewertungsform hin, die die Fortschritte jedes einzelnen Schülers, jeder einzelnen Schülerin stärker berücksichtige als den Bezug zum Klassendurchschnitt, die also auf einem Leistungsbegriff basiere, der nicht von Lernzielen, sondern vom Leistungsvermögen jedes einzelnen Kindes ausgehe. Untersuchungen und Vergleiche von Statistiken bestätigen, dass die Mittelschule die in sie gesteckten Erwartungen erfüllt hat.

Rudolf Meraner, Direktor des Bereichs Innovation und Beratung, betonte, dass erst die Mittelschule vielen Menschen Zugang zur Bildung ermöglicht und Begabungen erschlossen habe. Die Daten über die Studientitel zeigten, dass die Anzahl der Menschen mit Oberschulabschluss und die Anzahl der Akademiker/innen deutlich gestiegen seien, während die Anzahl der Menschen ohne Studienabschlüsse deutlich gesunken sei. Das Bildungsgefälle zwischen Land und Stadt sei verringert, wenn auch nicht aufgehoben worden. Bildungsunterschiede zwischen Deutschen, Italienern und Ladinern seien ausgeglichen worden und der Bildungsgrad der Frauen sei angehoben worden. Ohne die Mittelschule wäre wohl die Umsetzung der Autonomie nicht möglich gewesen, weil es an ausgebildetem Personal gefehlt habe.

 

Mittelschule in der Krise?

Bedenklich stimmten die Beiträge der Schulamtsleiter: Nicoletta Minnei bezeichnete die Mittelschule als die heraus-forderndste Stufe. Die Mittelschule habe, laut Minnei, Lernrückgänge zu verzeichnen und sei nicht immer imstande, auf die Bedürfnisse von Pubertierenden zu reagieren. Die Mittelschule weise das höchste Durchschnittsalter der Lehrpersonen auf und am wenigsten Kontinuität in der Stellenbesetzung bei Lehrerinnen und Lehrern, weil diese oft Arbeitsstelle wechselten. Peter Höllrigl und Roland Verra verwiesen auch auf die Lehrerausbildung, die aktuell nicht zufriedenstellend geregelt sei und viele offene Fragen aufwerfe. Als Herausforderung für die Mittelschule bezeichnete Claudio Vidoni auch die Mehrsprachigkeit.

Den Blick über die Staatsgrenzen richtete Karl Heinz Gruber, Professor i. R. für Vergleichende Erziehungswissenschaft an der Universität Wien, der sich in den letzten Jahren mit Schulentwicklung und Schulreformen in den hoch entwickelten OECD-Ländern beschäftigte.

Er beklagte, dass sich in Österreich und Deutschland in der Vergangenheit keine gesamtschulische Identität habe entwickeln können, ebenso wenig das Potenzial einer Gesamtschule als demokratische Leistungsschule. Eine mächtige Koalition aus christlich-konservativen Politikern, Gymnasiallehrern, katholischen Verbänden, Akademikern und Pädagogikprofessoren, die die frühe Selektion im Alter von zehn  Jahren nie hätten rechtfertigen müssen und für die der Fortbestand des Gymnasiums und die Segregation zwischen Gymnasiasten und Nichtgymnasiasten absolut außer Frage stünden, habe dies verhindert. Auch der „PISA-Schock“ habe in diesen beiden Ländern keinen Umschwung der öffentli-chen Meinung und der Bildungspolitik bewirkt, ebenso wenig wie der Umstand, dass zahlreiche bei PISA erfolgreiche Länder bis zum Ende der Schulpflicht Gesamtschulsysteme hätten. 

In den USA und in England habe sich ein pädagogischer Neoliberalismus breit gemacht, der ein Zurückziehen des Staates fordere und auf die Mündigkeit seiner Bürgerinnen und Bürger zähle. Ein Licht der Hoffnung sei für ihn Südtirol, auf das er sein Augenmerk  richte.

Ein optimistisch stimmender Abschluss nach vielen interessanten Beiträgen, reich an Informationen und persönlichen Erzählungen, die die Zuhörerinnen und Zuhörer zum Nachdenken und Hinterfragen ebenso wie zum Schmunzeln und Lachen anregten.

 

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