Schulreformen - Schulversuche - Pilotprojekte
Was kommt von „unten“? Was kommt von „oben“? – Die landläufige Meinung ist, dass Schulreformen typische Top-down-Prozesse und Schulversuche und Pilotprojekte typische Button-up-Prozesse sind. Die Mitwirkungsmöglichkeit von Lehrerinnen und Lehrern scheint bei der Gestaltung und Umsetzung von Schulreformen geringer zu sein als bei der Gestaltung und Umsetzung von Schulversuchen und Pilotprojekten. von Rudolf Meraner Wenn man genauer hinschaut, ergibt sich aber ein weit differenzierteres Bild, das viele allgemein verbreitete Annahmen auf den Kopf stellt. Im Folgenden soll auf die Mitgestaltungsmöglichkeit und die Wirksamkeit von Schulreformen, Schulversuchen und Pilotprojekten eingegangen werden.SchulreformenSchulreformen werden zwar mit einem Gesetz durch Parlamente oder Landtage verordnet, und die am Bildungswesen Beteiligten sind dann aufgefordert, diese Reformen umzusetzen und die Gesetze wirksam werden zu lassen. Schulreformen kommen aber selten „über Nacht“ und bergen in der Regel keine Überraschungen. „Schulreformen über Nacht“ sind reine Mythenbildungen. In Südtirol sind sie immer noch in Bezug auf die staatliche Reform der Mittelschule (1962) und die Integration der Schülerinnen und Schüler mit Behinderung (1977) verbreitet. Schulreformen werden in der Regel jahrelang vorbereitet, breit diskutiert und erst nach intensiven Diskussionen in Gesetzgebungskommissionen und Landtagen oder Parlamenten verabschiedet. Beispiel „Autonomie der Schulen“Die Reform, mit der die Autonomie der Schulen (Landesgesetz Nr. 12 vom 29. Juni 2000) eingeführt wurde, wurde zu Beginn der 90er Jahre auf der „Conferenza nazionale sulla scuola“ erstmals angedacht. Bereits 1993 lag ein erster nationaler Gesetzesentwurf vor, der in Südtirol durch einen Artikel in „forum schule heute“ (s. Anmerkung 1) bekannt gemacht wurde. Auf nationaler Ebene wurde die Diskussion weitergeführt und mit dem sogenannten Bassanini-Gesetz (Nr. 59 vom 15. März 1997, Art. 21) abgeschlossen. Bereits 1995 begannen am Pädagogischen Institut und am Deutschen Schulamt die Vorbereitungsarbeiten für die Umsetzung der Autonomie der Schulen in Südtirol. In einem Pilotprojekt (s. Anmerkung 2) konnten die Schulen Erfahrungen sammeln, wie sie mit den neuen Gestaltungsspielräumen innerhalb der Schule umgehen und welche Ausgleichsprozesse zwischen Schulführung, Lehrerkollegium, Elternrat und Schülervertretung notwendig sind, um zu Entscheidungen zu gelangen. Sie lernten Arbeitsweisen und Instrumente kennen, erprobten die Arbeit mit Steuergruppen, begannen in systematischerer Weise Schulprogramme zu erstellen und darauf aufbauend Selbstevaluationen durchzuführen. Entscheidend war, dass das Pilotprojekt und die Erarbeitung des Landesgesetzes miteinander verzahnt waren. Personen aus dem Deutschen Schulamt, die hauptverantwortlich am Gesetzestext schrieben, waren in der Steuergruppe des Pilotprojektes vertreten, und umgekehrt wirkten die Verantwortlichen des Pilotprojektes und Schulführungskräfte aus den Pilotprojekt-Schulen in der Arbeitsgruppe mit, die den Text für das Landesgesetz vorbereitete. Dadurch konnten viele Erkenntnisse aus dem Pilotprojekt direkt Eingang in den Landesgesetzesentwurf nehmen. Dieses Beispiel zeigt deutlich, wie komplex der Prozess der Ausgestaltung von Schulreformen ist und wie viel Anteil dabei Schulführungskräfte und Lehrerinnen und Lehrer haben. Ähnlich war es beim Landesgesetz zur Reform der Unterstufe und der Reform der Oberstufe. Freilich gelingt es nie, alle Lehrpersonen einzubeziehen, auch dann nicht, wenn ein Entwurf zur allgemeinen Diskussion freigegeben wird und Anregungen und Verbesserungsvorschläge gesammelt werden. Die Verbesserungsvorschläge, die eingebracht werden, widersprechen sich häufig, oft stehen sie einander diametral entgegen. Deshalb haben am Ende viele den Eindruck, nicht berücksichtigt worden zu sein. SchulversucheSchulversuche werden nicht von Parlamenten oder Landtagen in Kraft gesetzt, sondern vom Schulrat einer Schule als Ausdruck des Willens einer Schulgemeinschaft. Auf den ersten Blick erscheint dies als ein Prozess, der von der Basis ausgeht. Betrachtet man klassische Fälle der Schulversuche, z. B. die Schulversuche an den Südtiroler Oberschulen der 90er Jahre oder den Schulversuch Neue Mittelschule in Österreich, erkennt man sehr schnell, dass Schulversuche von der Politik forciert werden, wenn es ihr nicht gelingt, einen Konsens über eine Reform zustande zu bringen. Die Unfähigkeit, eine Regelung auf Staats- oder Landesebene herzustellen, eröffnet den Schulen die Möglichkeit, selbst wirksam zu werden. Die Möglichkeiten sind aber häufig sehr eingeschränkt und bestehen nur darin, ein fertiges Konzept zu übernehmen oder zwischen zwei fertigen Konzepten zu wählen (z. B. Handelsoberschule Brocca oder IGEA, Projekt 92 für die Lehranstalten). Andreas Stoll hat 1990 die Südtiroler Schulversuche der Oberschule untersucht. „Die Schulversuche, die ursprünglich als Wegbereiter und als Erprobungsfeld für künftige Reformen gedacht waren und auf Reformen vorbereiten sollten, sind inzwischen so zahlreich geworden, dass man bereits von einer Reform von der Basis her spricht. Die Schulversuche scheinen immer mehr zu einem Ersatz für die fehlende Reform zu werden.“ Dem hält er aber gegenüber, dass diese Schulversuche „beachtliche innere Kräfte entwickelt“ haben. (s. Anmerkung 3) Pilotprojekte Neben dem Pilotprojekt „Autonomie der Schulen“ sind in der deutschen Schule in Südtirol weitere Pilotprojekte umgesetzt worden:
Einige dieser Pilotprojekte sind sang- und klanglos verschwunden, einige haben eine wichtige Vorreiterrolle für weitere Entwicklungen gespielt und einige sind in den Normalbetrieb übergeführt worden und aus dem Südtiroler Schulsystem nicht mehr wegzudenken. Die Schwachstellen von Pilotprojekten sind:
Dennoch sind Pilotprojekte unverzichtbar, wenn es darum geht, Erfahrungen und Erkenntnisse zu Innovationen zu sammeln, bevor man eine Innovation in die Fläche bringt. Erkenntnisse zu Organisation und TransferIn der Organisationstheorie und Transferforschung geht man von der Grundannahme aus, dass Reformen in der Regel nur das absegnen, was ein Teil der Betroffenen schon realisiert. Für diese ist die Reform nichts Neues, sondern eine Legitimierung ihres bisherigen Tuns. In der Transferforschung wird vor allem mit dem folgenden Modell von Everett M. Rogers gearbeitet. (s. Anmerkung 5)
Grafik nach Rogers von Alois Rabanser Die Innovativen übernehmen jede Innovation sofort. Sie werden als risikobereit, vielfach interessiert, im System wenig ver-ankert, aber mit vielen Kontakten nach außen charakterisiert. Die Vorreiter haben eine starke Stellung innerhalb des Systems und sind die Meinungsführer. Sie überprüfen und adaptieren eine Innovation für ihr System. Das frühe Hauptfeld ist entschei-dend für die Verbreitung der Innovation. Diese Personen sind gut vernetzt, exponieren sich aber nicht gerne. Das späte Haupt-feld übernimmt die Innovation, nachdem sich die Hälfte bereits dafür entschieden hat. Der steigende soziale Druck und die geänderten Normen und Werte sind dafür ausschlaggebend. Die Nachzügler sind eher innovationsfeindlich und vergangen-heitsorientiert. Heute wird diese Gruppe oft noch unterteilt, wobei eine Gruppe der Resistenten eingeführt wird, die sich jeder Neuerung widersetzt. Manche Unternehmen nutzen diese Grundtypen bewusst für die Entwicklung ihrer Innovationen. Sie beauftragen eine Arbeitsgruppe aus Innovatoren und Vorreitern damit, neue Ideen zu entwickeln. Sie geben in einem zweiten Schritt Innovationsskeptikern diese Ideen mit dem Auftrag in die Hand, alle Hindernisse für die Umsetzung der Ideen zu benennen. Im dritten Schritt erhält eine Arbeitsgruppe aus Personen, die dem frühen Hauptfeld zugeordnet werden, die Ideen und die Liste mit den Hindernissen. Sie sind nun für die Umsetzung der Innovation verantwortlich. Chancen und Grenzen Schulen, in denen die entwicklungsresistenten Lehrer und Lehrerinnen in der Mehrheit sind, haben sowohl bei Schulversuchen als auch bei Schulreformen Probleme und werden sich kaum an Pilotprojekten oder Profilbildungen beteiligen. Sie sind vor allem lehrerzentriert und überprüfen in der Regel das Neue in Hinblick auf das, was es für Veränderungen für die Lehrer und Lehrerinnen bringt. Sie übernehmen von Schulversuchen und Schulreformen die Oberflächenstruktur und fragen demnach in erster Linie: Welche Dokumente müssen wir erarbeiten, welche Formulare verwenden, wie sichern wir uns vor Rekursen ab? Aber auch Schulen, in denen die innovationsfreudigen Lehrer und Lehrerinnen die Oberhand haben und von einer Schul-führungskraft mit einer ähnlichen Einstellung geleitet werden, haben Schwierigkeiten. Sie beteiligen sich an jedem Pilot-projekt und initiieren mehrere Profilbildungen gleichzeitig. Sie agieren in der Regel schulzentriert, d.h. sie fragen in erster Linie nach dem Nutzen für die Schule in Hinblick auf ihr innovationsfreundliches Image und vor allem auf die Einschreibe-zahlen der Schüler und Schülerinnen. Diesen Schulen stehen Schulen gegenüber, in denen sich die innovationsfreudigen und entwicklungsresistenten Lehrer und Lehrerinnen die Waage halten und mit ihren Stärken und Schwächen in Reformprozesse einbezogen sind. In diesen Schulen haben die Lehrpersonen, welche für Entwicklungen offen sind, aber diese genau prüfen, die Oberhand. Diese Lehrpersonen sind weder rückwärtsgewandt noch zukunftsverträumt, sondern stehen fest im „Hier und Jetzt“. Die Schulführungskraft hat eine ähnliche Einstellung und sorgt für Ausgleich. In diesen Schulen wird in erster Linie danach gefragt, was die Schüler und Schülerinnen brauchen, wie Neuerungen das Lernen und die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler und Schülerinnen unterstützen. Dokumente und Formulare erfüllen keinen Selbstzweck, sondern werden eingesetzt, um Abläufe zu vereinfachen und zu vereinheitlichen. Natürlich gibt es kaum einen von diesen Typen in Reinkultur, sondern es herrschen Nuancen und Übergänge vor. Dennoch könnte es hilfreich sein, wenn sich Schulen die Frage stellen, welchem Typ sie sich annähern, oder wenn sich Lehrer und Lehrerinnen fragen, wie sie sich in dieses Bild einordnen.
|
thema
|
---|