Es geht um mehr als eine Methode
Der Titel des Beitrags ist mehrdeutig. Einerseits geht es beim Lesen- und Schreibenlernen um mehr als um eine Methode: Es geht vor allem um die kognitive Entwicklung von Kindern. Andererseits beruht der Erfolg des Unterrichts fast immer auf mehr als nur einer Methode: Er beruht in den meisten Fällen auf Methodenvielfalt, denn unterschiedliche Kinder brauchen in abweichenden Entwicklungsphasen individuelle Zugänge. von Wilhelm Topsch Seit Jahrhunderten beschäftigt sich die Pädagogik mit der Frage, wie Kindern der Einstieg in die Schriftsprache erleichtert werden kann.Bedeutende Persönlichkeiten wie Comenius, Basedow, Trapp, Pestalozzi, Fröbel, Montessori haben sich mit dem Lesen- und Schreibenlernen beschäftigt. Dabei haben sie unterschiedliche Methoden entwickelt und favorisiert:
In der heutigen Form wurde das analytisch-synthetische Verfahren am Anfang des 20. Jahrhunderts vorgestellt.
Komplexer Entwicklungsprozess
Mit der fast flächendeckenden Verbreitung der analytisch-synthetischen Vorgehensweise wurden die Voraussetzungen für die Verbindung von Lesen- und Schreibenlernen geschaffen. Dabei hat sich die Druckschrift als einheitliche Anfangsschrift für das anfängliche Lesen und Schreiben durchgesetzt. Die Druckschrift stellt geringere Anforderungen an die Schreibmotorik und ist hinsichtlich der Formkonstanz den verbundenen Schriften klar überlegen. Heute wird der Schriftspracherwerb als ein komplexer, kognitiver, motorischer und sozialer Entwicklungsprozess verstanden. Die didaktische Diskussion basiert im Wesentlichen auf einem Modell, das Mitte der Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts von Uta Frith für den englischsprachigen Raum vorgestellt wurde (Frith 1986). Es dient seither auch im deutschsprachigen Raum als Basis für vielfältige Forschungs- und Theoriebildungsaktivitäten. Das Modell unterscheidet drei Phasen, die durch unterschiedliche Strategien des Kindes gekennzeichnet sind:
Diese grundlegenden Strategien werden für die Tätigkeiten des Lesens und Schreibens zeitlich versetzt entfaltet, sodass ein Sechs-Stufen-Modell entsteht. Frith geht davon aus, dass jeweils eine der beiden Tätigkeiten (Lesen oder Schreiben) führend ist und einen Strategiewechsel für die jeweils andere Aktivität einleitet. So zieht das logographisch orientierte Lesen zunächst eine entsprechende Form des Schreibens nach sich. Dieses „naive“ Schreiben begünstigt den Übergang zur alphabetischen Strategie. Dabei entwickelt sich eine Lautorientierung unter Beachtung der eigenen Aussprache, z. B. METCHEN für „Mädchen“, AINHONT für „ein Hund“. Die Lautorientierung des Schreibens wird nach und nach auch für das Lesen wirksam. Durch das Erkennen von Gleichschreibungen bahnt sich schließlich ein Wechsel zur orthographischen Strategie an. Sie vollzieht sich zunächst für das Lesen und wird später auch auf das Schreiben angewendet. Modifikationen des Frith-Modells von Günther (1986), Valtin (1990), Scheerer-Neumann (2003) bestimmen die deutschsprachige Diskussion.
Der Spracherfahrungsansatz Wesentliche Anstöße für Theorie und Praxis des Schriftspracherwerbs sind vom Spracherfahrungsansatz ausgegangen (Brügel-mann 1983). Der Spracherfahrungsansatz stellt im Sinne der traditionellen Methodendiskussion keinen eigenen methodischen Ansatz dar. Er versteht sich vielmehr als ein pragmatischer Verbund von Lernanlässen und Lernmaterialien, die den Kindern individuelle Zugänge zur Schriftsprache eröffnen. Die einzelnen Anregungen und methodischen Teilschritte des Sprach-erfahrungsansatzes lassen sich mehrheitlich dem analytisch-synthetischen Verfahren zuordnen. Der Spracherfahrungsansatz integriert unterschiedliche grundschulpädagogische Strömungen:
Der Spracherfahrungsansatz fand in der Praxis eine starke Beachtung und Verbreitung. Viele Materialien und Konzeptionen, die seither entwickelt wurden, lassen sich mehr oder weniger deutlich dem Spracherfahrungsansatz zuordnen. Heutige Situation Im Zuge der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung hat sich die Situation der familiären und der institutionellen vor-schulischen Förderung deutlich geändert. Die Allgegenwart digitaler Medien verstärkt diese Tendenzen. Diese Veränderungen tangieren auch den Schriftspracherwerb. Die familiäre und institutionelle Förderung im Vorschulalter ist häufig auf Teilfertig-keiten des Schriftspracherwerbs fokussiert. Trainingsmaterialien, didaktische Spiele und Lernprogramme bis hin zu Apps für Tabletcomputer konfrontieren die Kinder mit Laut- und Schriftzeichen und fordern sie zu spezifischen Analyseleistungen heraus. Die Entwicklung im außerschulisch-didaktischen Bereich führt zu einer Spreizung der Vorläuferfertigkeiten im visuellen, auditiv-artikulatorischen und feinmotorischen Bereich. Der Abstand zwischen den stark geförderten und den wenig oder nicht geförderten Kindern mit jeweils individuellen Entwicklungsständen stellt den Schulanfang vor völlig neue Herausforderungen.
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