Vom „Rechenknecht“ zum „Zahlenforscher"
Moden gibt es nicht nur in der Konsumwelt, sondern auch in der Wissenschaft und im Schulunterricht. Einige werden sich noch – mit Schrecken, mit einem Schmunzeln? – an die Zeit erinnern, als im Mathematikunterricht der Pflichtschulen „Mengenlehre“ auf dem Programm stand und das Magazin „Der Spiegel“ im Jahre 1974 ein ganzes Heft mit dem bemerkenswerten Titel „Macht Mengenlehre krank?“ diesem Thema widmete. Was war da los? von Brigitta Haas
Ein Rückblick in die wechselvolle Geschichte des Mathematikunterrichts von der Zeit Adam Ries’ (1492-1559) bis zum Beginn des Computerzeitalters lässt uns vielleicht etwas gelassener auf Modeerscheinungen, Trendwenden und Umbrüche reagieren. So wie viele Regelungen in der Gesellschaft von Zeit zu Zeit in Frage gestellt werden, so wandelte sich auch der Mathematikunterricht. Zum Ausdruck kommen darin nicht nur der Zeitgeist, sondern oftmals auch die bildungspolitischen und wirtschaftlichen Interessen der Regierenden.
Untergeordnete Rolle des Rechnens Bis weit in das 18. Jahrhundert spielt der Rechenunterricht in den Schulen nur eine untergeordnete Rolle. Das Regelrechnen, so wie es im Rechenbuch von Adam Ries vorgeführt wird, hält sich fast bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Im Zuge der Aufklärung stellt H. Pestalozzi (1746-1827) „die Entwicklung der geistigen Kräfte aller Menschen“ in den Mittelpunkt und aus dem mechanischen Erwerb der Rechenregeln soll ein „Denkrechnen“ werden. Die Gegenbewegung lässt nicht lange auf sich warten und setzt an die Stelle des „Primats der formalen Bildung“ das „Primat der materiellen Bildung“. Während sich die Sachrechenmethodiker im 19. Jahrhundert mit ihrer Orientierung an den „Stoffen des täglichen Lebens“ (Münz-, Maß- und Gewichtsordnungen schon ab der 1. Klasse) durchsetzen können, bleibt eine andere Kontroverse zwischen Methodikern für den Anfangsunterricht folgenlos: die Diskussion um das „Wesen der Zahl“. Es geht um die Zahlbegriffsentwicklung beim Kinde, eine auch heute noch aktuelle Frage. Erwerben die Kinder den Zahlbegriff eher durch die Betrachtung der Zahlwortreihe und das Zählen, wie die „Zählmethodiker“ meinen, oder eher durch das Betrachten von anschaulichen Materialien und von Zahlbildern („Zahlbildmethodiker“)? J. Kühnel (1869-1928) beendet den Streit durch eine Synthese der Ideen beider Gruppen.
Der ganzheitliche Ansatz Der Anfang des 20. Jahrhunderts bringt eine breite reformpädagogische Bewegung hervor. „Pädagogik vom Kinde aus“ ist das neue Schlagwort (Ellen Key, Maria Montessori, Johannes Kühnel). Erkenntnisse aus psychologischen Theorien fließen in die Verbesserung des Rechenunterrichts ein. Das Kind und seine Art zu lernen stehen im Mittelpunkt und sind bei der Auswahl und Anordnung der Lerninhalte ebenso zu berücksichtigen wie seine natürliche Entwicklung. Vor allem aber sind die Selbstständig-keit und die Eigentätigkeit des Kindes zu fördern. Erst in der Nachkriegszeit hält dieser ganzheitliche Ansatz langsam Einzug in den Grundschulunterricht, allerdings als zulässige andere Form der methodischen Gestaltung neben dem traditionellen Rechenunterricht. Es sind die Experimente des Schweizer Psychologen und Erkenntnistheoretikers Jean Piaget und seine Beschreibung der kindlichen Denkstrukturen mithilfe logisch-mathematischer Modelle, die den Mathematikdidaktikern besonders einleuchten und zur Entwicklung einer „operativ-ganz-heitlichen“ Methode führen.
Eine gescheiterte Reform Nun aber wird diese „gewachsene“ Reform durch eine flächendeckende Einführung der sogenannten „Neuen Mathematik“ (Mengenlehre) abgelöst. Kern der neuen Inhalte ist das Konzept der Menge, Abbildung, Struktur, der streng logische Aufbau und die präzise mathematische Sprache mit einer Flut von Bezeichnungen, Begriffen und Symbolen. Zahlen kommen am Anfang des Lehrgangs überhaupt nicht vor. Die lernpsychologische Sichtweise bleibt bei der Umsetzung in den Schulbüchern größtenteils auf der Strecke. Die Reform ist gescheitert, auch daran, dass der neue Inhalt nach traditionellem Muster durchgenommen wurde und dass grundlegende Begriffe aus der Logik und der Mengenlehre nicht so leicht zu verstehen sind. Geblieben ist der Begriff „Mengenlehre“ mit einem negativen Beigeschmack, fast schon ein Schimpfwort. Das vertraute Schulfach „Rechnen“ ist gegen das Schulfach „Mathematik“ ausgetauscht worden. Aber nicht die Einführung der Inhalte, nicht die Stofffülle und nicht die Behandlung der „Mengenlehre“ sind die Hauptmerk-male dieser Reform, sondern die Vorschreibung durch den Gesetzgeber. Dieser Vorgang ist ein eindrucksvolles und ab-schreckendes Beispiel für eine nicht gewachsene, sondern verordnete Reform, wie es sie für kein anderes Fach gegeben hat. Trotz gut begründeter Zielsetzung und vieler durchaus interessanter Ansätze und Ideen musste sie schon deshalb fast zwangs-läufig scheitern, weil weder Lehrpersonen noch Eltern auf sie vorbereitet waren. Kurze Zeit später wurde die Reform von oben zurückgenommen. Neue Inhalte und Methoden kann man eben nicht per Erlass einführen.
Eine geglückte Reform Auch der Mathematikunterricht in den Gymnasien steckte Ende des 19. Jahrhunderts in einer tiefen Krise. Daher verhandelte der Mathematiker und Didaktiker Felix Klein (1849-1925) in den Jahren 1900/1901 mit dem preußischen Kultusministerium, um es davon zu überzeugen, die Reformen wie üblich als neuen Lehrplan anzuordnen. Er erhielt eine ganz unerwartete und außergewöhnliche Antwort. Das Ministerium stimmte den Vorschlägen zu, lehnte es aber ab, sie als Lehrplanänderungen von oben her vorzuschreiben. Vielmehr empfahl es ihm, die Einführung der curricularen Veränderungen von unten her zu organisieren: durch das Gewinnen der Unterstützung von geeignet ausgebildeten Lehrern, die als Promotoren der Implemen-tation der Reformen an ausgewählten Schulen agieren würden. Da die Gymnasiallehrer methodische Lehrfreiheit besaßen, konnten sie Kleins Curriculumänderungen (Einführung des Funktionsbegriffs von Anfang an; Differential- und Integralrechnung) ohne vorherige behördliche Genehmigung in die Praxis umsetzen. Diese Reform ist als „Meraner Programm“ in die Geschichte eingegangen, weil im Jahre 1905 die deutsche Mathematikervereinigung (DMV) dieses von Felix Klein ausgearbeitete Programm auf dem Kongress in Meran beschlossen hatte.
Und heute? Die Wiederentdeckung der reformpädagogischen Ansätze löst in den achtziger Jahren einen Innovationsschub aus. „Mathematik entdecken“ ist die neue Leitidee, entstanden aus einer sozial-konstruktivistischen Sichtweise auf das Mathematik-lernen. Der ganzheitliche Zugang zur Mathematik rückt wieder in den Vordergrund. Heute genießt diese Sichtweise im Kreise der Mathematikdidaktiker und vieler Lehrer/innen hohes Ansehen. Entwicklungen verlaufen nie linear und ein Blick zurück in die Geschichte des Mathematikunterrichts stimmt zuversichtlich. Extreme didaktische Positionen haben sich nie durchgesetzt. Sie haben aber geholfen, den Unterricht in Teilaspekten zu befruchten und zu verbessern, durchaus eine Erfolgsgeschichte.
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