Reformkritik, -lust und -frust„Von außen diktiert, an den Kindern vorbei, zu bürokratisch…“ Die kritischen Anmerkungen zu größeren und kleinen Reformen sind vielfältig. Doch Widerstände haben durchaus etwas für sich. Sinnvolles hinterlässt Spuren, anderes kann sich nicht durchsetzen. von Ledi Turra Rebuzzi
Wohin bewegen sich die Schulreformen in Europa? fragt sich J. Oelkers auf http://www.ife.uzh.ch/research/emeriti/oelkersjuergen/vortraegeprofoelkers/vortraege2007/259_Salzburg.pdf. Wichtiger als die formale Struktur von Schultypen und -stufen seien allerdings so komplexe Fragen wie jene nach der Chancen-gleichheit: Wo und wie erfolgt die Auswahl der Schülerinnen und Schüler? Welche Chancen bietet das jeweilige Bildungssystem und wie werden sie genutzt?
Im Interview „Ich wollte die Revolution“, das Oliver Voss mit der Schulreformerin Enja Riegel, Schulleiterin der Helene-Lange-Schule, geführt hat – Sie können es auf http://www.spiegel.de/schulspiegel/interview-mit-schulreformerin-enja-riegel-ich-wollte-die-revolution-a-308124.html nachlesen – heißt es: „Die dauernde Prüferei verbessert weder die Schüler noch die Schulen“. An ihrer Schule, die einen PISA-Spitzenplatz erreichte, so die begeisterte Pädagogin, herrscht didaktische Kontinuität, Lehrerinnen und Lehrer unterrichten Schülerinnen und Schüler, nicht Fächer, und die Projektarbeit wurde entschieden aufgewertet. Sie erwähnt den exemplarischen Unterricht und berichtet davon, wie die Schüler/innen Theater machen, welchen Nutzen sie beispielsweise für Mathe daraus ziehen, dass die Jungen und Mädchen selbst die Schule putzen und dabei Selbstbewusstsein entwickeln. In einem Interview auf der Seite http://www.wdg-hamburg.de/node/968 bricht Anneliese Wellensiek von der Universität Hamburg eine Lanze für den Einsatz von Portfolios als Lernbeweis, als Ersatz von Schularbeiten oder auch als Dokumentation des persönlichen Lernwegs und der Selbstreflexion. Statt Leistung nur festzustellen, wie es das Noten-system vorsieht, ermögliche das Portfolio, Leistung darzustellen, die Ausgangslage, den individuellen Lernweg, somit verlagere sich der Fokus vom Vergleich mit anderen auf die eigene Entwicklung und die eigenen Lernfortschritte. Allerdings warnt Wellensiek auch vor einem unsachgemäßen Einsatz des Portfolios, besonders im Zusammenhang mit der Kompetenzorientierung, was unweigerlich zu einer Überforderung der Schülerinnen und Schüler führe. Schließlich empfiehlt sie, „das Lernen von der Leistung zu trennen.“ Wie Schweizer Lehrerinnen und Lehrer auf die von Politik und Verwaltung verordneten Großreformen reagieren, kann auf http://www.weltwoche.ch/ausgaben/2009-15/artikel-2009-15-revolte-der-real.html nachgelesen werden. „Vor lauter Reformen und bürokratischen Umständen verliere man den Sinn fürs Wesentliche.“, meint ein Befragter und „Wer unterrichtet, ist täglich einer Art Realitätstest ausgesetzt: Die Lehrer merken, wo der Schuh drückt. Sie wissen, welche Reformen funktionieren und welche nicht.“ Zu viele Reformen, zu wenig Konzentration auf den Unterricht, fehlende Fachbezogenheit und Zielorientierung, werden wiederholt beklagt. Die ständigen Reformen hätten eine «Grundhektik» in den Beruf gebracht, konzentriertes Vorbereiten und Unterrichten sei erschwert. «Es herrscht eine hohle Betriebsamkeit. Über das Wohl des Kindes spricht niemand.» Pichard beobachtet einen «Konflikt zwischen Lehrpersonen und Bildungsbürokratie». Während Politik und Verwaltung die Schule umzukrempeln versuchen, beginnt sich die Basis gegen die von oben verordneten Reformen zu wehren. Als mögliche Lösung wurde ein Diskussionsforum über Schulfragen angelegt: www.kindgerechte-schule.ch.
Und auf https://www.phzh.ch/Documents/phzh.ch/Ueber_uns/PH-Akzente/3-2010/standpunkt10-3.pdf geht Jean-Claude Baudet, Mittelstufenlehrer im Schulhaus Allenmoos und Mitinitiant der Aktion „Schule im Sinkflug“ der Frage nach, ob eine gute Schule und die Bildungsverwaltung etwa zwei unvereinbare Systeme darstellen. „An einer guten Schule“, meint er, „wird viel gefragt, nachgefragt, hinterfragt“ und er optiert für das Zulassen von Fragen auf allen Ebenen; vor allem aber müsse an einer guten Schule auch „das Scheitern möglich sein“, weil anschließend reflektiert werden kann und der Lernprozess somit in Gang bleibt. An seiner Schule wollen die Lehrer „das Heft selbst in die Hand nehmen“, denn „die Zeit der Bildungsrezepte ist abgelaufen und das eigentlich Menschliche muss in der Bildung wieder in den Vordergrund treten.“ Daher wollen die Lehrer sich vermehrt Fragen zu ihrem Handeln, zu ihren Werten und ihren Zielen stellen. Laut Ralph Fehlmann, http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/reform-oder-reformitis-1.14389105, drohen die von außen diktierten Reformen ein gut funktionierendes System zu zerstören. Anhand der drei Leitbegriffe Ökonomisierung, Bürokratisierung und Standardisierung zeigt er die Fragwürdigkeit von Neueinführungen auf und bemängelt, dass die 15 Jahre währende Reformlust neben ineffizienter Aufblähung des Verwaltungsapparats ein regelrechtes Überwachungs-system gebracht habe, das das Vertrauen in die Lehrkräfte untergrabe. Zudem wendet er sich gegen den Ruf nach Standards, da sie die Chancenungleichheit erhöhen. In diesem Zusammenhang zitiert er die «Standardisierungspäpstin» Diane Ravitch mit ihren Worten: «Die Ausrichtung an Tests behindert das Lernen von Schülern, statt es zu verbessern.» Selbst sie habe sich zur Reformgegnerin gewandelt.
Dass der Reformeifer in den deutschsprachigen Ländern nachlässt, darüber berichtet das DACH-Reformbarometer auf http://redaktion-factsandfigures.blogspot.it/2013/04/dach-reformbarometer-2013-nachlassender.html
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