Begabung als Segen und Fluch

Schon in der Bibel zog sich ein Diener den unbändigen Zorn seines Herrn zu, weil er die Talente, die er von ihm erhalten hatte, nicht einsetzte und brach liegen ließ. Die Experten der Tagung zur Begabtenförderung des Deutschen Schulamtes waren sich einig, dass Begabung genbedingt ist, aber nur durch aktive Förderung und viel Übung zum Ausdruck kommen kann.

von Johanna Mitterhofer

 

 

Die Schule von heute baut auf Inklusion, in der jede/r Einzelne – egal ob minder-, mittel- oder hochbegabt – in ihrem/seinem Potenzial maximal gefördert werden soll. Dabei müssen Leistung und Freude am Lernen keinen Widerspruch ergeben – im Gegenteil: Lernen ist am effizientesten, wenn es Spaß macht.

 

Türen öffnen

Für Siglinde Doblander, die gekonnt die Tagung moderierte, geht es bei der Begabtenförderung darum, Kinder und Jugendliche in ihren individuellen Anlagen, Fähigkeiten und Interessen zu stärken, damit sie ihre Potenziale entfalten und als zufriedene, in die Gemeinschaft integrierte, kompetente und verantwortungsbewusste Menschen heranwachsen. Dabei müsse die Förderung selbstverständlicher Teil der Lernkultur einer Schule sein.

Schulamtsleiter Peter Höllrigl bezeichnete die Begabungen als Schätze, die entdeckt werden müssten. Oft seien sie schnell sichtbar, manchmal aber auch versteckt. Damit sich die Begabungen entfalten könnten, käme den Lehrpersonen die Aufgabe zu, sie auszugraben, die Schüler/innen zu begleiten, für sie ein fruchtbares Lernumfeld zu schaffen. Führungskräfte müssten für den idealen Rahmen sorgen, die Eltern sollten unterstützen. Von Seiten der Kinder und Jugendlichen sei viel Einsatz, Fleiß, Übung, Ehrgeiz und Motivation notwendig. Die Erwachsenen – Lehrpersonen und Eltern – könnten die Tür für die Begabungen öffnen, über die Schwelle treten müssten die jungen Menschen aber selber.

 

Gute Lehrer/innen an guten Schulen

Willi Stadelmann, Naturwissenschaftler und Pädagoge aus der Schweiz, betonte, dass das Wichtigste in der Schule die Lehrpersonen, ihre Persönlichkeiten seien. Für sie müssten bestmögliche Rahmenbedingungen sowie Aus- und Weiter-bildungsmöglichkeiten geschaffen werden. Lehrpersonen sollten alles dafür einsetzen, die Kinder zu stimulieren, sie zur Selbstgestaltung des Lernens, zum „Selbsttun“ anzuregen. Begabung werde vererbt, dabei müssten die Gene aber von Geburt an angeregt werden, ein kindgerechtes Fördern, keinesfalls ein Stressen sei notwendig.

Aus der Sicht der Neuropsychologie verändere nachhaltiges Lernen das Gehirn; Tätigkeit und Hirnstruktur bilden eine Vernetzung. Doch um Lernen, Begabung und Intelligenz verstehen zu können, müssten alle Facetten des Menschen, verschiedene Wissenschaften einbezogen werden. Jedes Kind sei ein Individuum und habe ein Recht auf optimale Förderung; jede Begabung müsse verschieden gefördert werden, damit jede/r Einzelne ihr/sein Potenzial steigern könne. Ein heterogenes Lernen sei unumgänglich; die Individualität nehme zu.

Hochbegabte zeichnen sich durch eine schnelle und effiziente Lernfähigkeit aus. Auch Lehren sei ein hochkomplexer, stark von der Individualität der Lehrperson abhängiger Prozess, der nicht mit einfachen Rezepten umschrieben werden könne. Die „gute“ Lehrperson gäbe es in diesem Sinne nicht.

Gute Schulen erkenne man an den gemeinsamen Zielen der Lehrpersonen, an der Zusammenarbeit von Lehrern, Eltern und Behörden im Team, am „Wir-Gefühl“ der Schule, an der qualitativ hochwertigen Weiterbildung, an der kompetenten Leitung, an der (Teil)Autonomie in den Bereichen Personal, Finanzen, Organisation und Pädagogik, an der Qualitäts-sicherung und -entwicklung, der Evaluation. Es müssten Möglichkeiten geschaffen werden, damit Entwicklung von „unten herauf“ stattfinden könne; Lehrpersonen bräuchten – wie ihre Schützlinge – stimulierende Entwicklungsräume. Der Schweizer Experte schloss mit dem humorvollen Zitat eines Unbekannten: „Schulen sind wie Stromkreise. Es gibt Leiter, Halbleiter und viele Widerstände.“

 

Individuelle Lernressourcen

Der Ulmer Universitätsprofessor  Albert Ziegler warf die Frage in den Raum, warum die Hochbegabtenförderung für die heutige Gesellschaft zu einem wichtigen Thema geworden sei. Pädagogisch verantwortbare Begabtenförderung sei unverzichtbar, man könne es sich (auch wirtschaftlich) gar nicht mehr leisten, Begabungen nicht zu fördern; die Hochbegabten seien die Maßstäbe für ein Land.

Die Hochbegabtenförderung müsse einem systematischen, nicht einem statischen Ansatz unterliegen und dabei die Person in ihrer Handlungsumwelt betrachten. Lernen vollziehe sich nämlich immer nur in konkreten Situationen und sei immer situiert. Persönliche Erfahrungen könnten (und sollten) nicht ausgeklammert werden, denn effiziente Lernstrate-gien bräuchten sie als Basis und bauten darauf auf.

Das Lernen erhöhe die Kapazität der Auseinandersetzung mit der Umwelt; Person und Lernumwelt müssten in Einklang gebracht werden. Der Lohn intelligenter Adaptionen der Lernangebote könnten Hochleistungen sein.

Wir unterscheiden je fünf Formen von Bildungskapital und von Lernkapital:

  • Ökonomisches Bildungskapital: Ressourcen, die die Eltern zur Verfügung stellen;
  • Kulturelles Bildungskapital: Wertschätzung von Bildung;
  • Soziales Bildungskapital: Personen, die die Bildung schätzen;
  • Infrastrukturelles Bildungskapital: gute Schulen mit entsprechenden Einrichtungen;
  • Didaktisches Bildungskapital: verfügbares Know-how zur Gestaltung und Unterstützung von Lern- und Bildungsprozessen;
  • Organismisches Lernkapital: berücksichtigt die Konstitution und die physiologischen Ressourcen;
  • Aktionales Lernkapital: bezieht sich auf das Handlungsrepertoire und alles, was wir können;
  • Telisches Lernkapital: bezeichnet die Verfügbarkeit von Zielen, die jemand verfolgen möchte;
  • Episodisches Lernkapital: Wissen, welche Handlungsmöglichkeiten wir in einer bestimmten Situation haben;
  • Attentionales Lernkapital: betrifft die Menge und Qualität der Aufmerksamkeit.

Es gelte Lernressourcen wahrzunehmen und Begabungen zu identifizieren. Untersuchungen belegen, dass Lehrpersonen meist die höheren Lernressourcen annehmen als Eltern und Schüler/innen und ihre Prognosen darum meist besser ausfallen. Die Motivation und Begeisterung der Lehrkraft unterstütze die Lernfähigkeit der Kinder und Jugendlichen, genaue Tipps seien für das Aufarbeiten von Lernstoff sehr hilfreich.

 

Trainings zu selbst-reguliertem Lernen

Für die Regensburger Universitätsprofessorin Heidrun Stöger ist selbstreguliertes Lernen die wichtigste Schlüsselkompe-tenz, um in unserer schnelllebigen Zeit die Herausforderung des lebenslangen Lernens erfolgreich zu meistern. Ein Training zu selbstreguliertem Lernen müsse gleichzeitig in der Schule und zu Hause stattfinden, da unabhängig von Talent und Intelligenz viel Zeit investiert werden müsse, damit Begabungen zum Ausdruck kämen. Lernstrategien könnten zur Zauberformel oder zum Flop werden. Tage für das „Lernen lernen“ an Schulen seien verschwendete Zeit; sie seien erfolglos, wenn nicht auch  Zusammenhänge zwischen Lernstrategien und Erfolgen im Leistungsbereich geschaffen werden könnten. Für die Schüler/innen müsste der Lernfortschritt klar sichtbar sein. Um eine langfristige, dauerhafte Nutzung der Lernstrategien anzustreben, müssten nach der Strategieanwendung eine Selbstüberwachung und eine Anpassung der Strategien stattfinden. Auch für Begabte und Hochbegabte müsse stets ein Leistungszuwachs möglich sein!

Ein Trainingsprogramm dauere sechs bis acht Wochen. Anfangs würden Informationen zu selbstreguliertem Lernen gegeben und eigene Stärken und Schwächen identifiziert. Daraufhin erfolge die Einübung von Lernstrategien. Immer wieder seien Besprechungen und Diskussionen über Lernverhalten und Leistung notwendig. Beobachtungs- und Vergleichsblätter dienten der Selbsteinschätzung und Evaluation. Nach dem Training sollte sich das Leistungsvermögen verbessert haben, die Strategien sollten man so weit verinnerlicht haben, dass sie gleich im täglichen Unterricht angewandt werden. Durch den erkennbaren Leistungszuwachs steige auch die Motivation aller Schüler/innen merklich.

 

Schülerbeiträge und Ausstellung

Anlässlich der Tagung bewiesen mehrere musikalische, literarische und theaterpädagogische Darbietungen von Jugendlichen, dass Südtirol ein guter Nährboden für Hochbegabungen ist. Zudem konnte im Foyer eine Ausstellung besichtigt werden, die aufzeigte, dass viele Schulen gezielt und Erfolg versprechend den Weg zur Begabtenförderung eingeschlagen haben.

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