Unvermeidbares Dilemma?

 

Bildungsstandards, Prüfungen und Pädagogische Diagnostik stehen im Zentrum dieses Grundsatzartikels. Wie lassen sie sich mit Kompetenzmodellen, Leistungsorientierung und individueller Förderung unter einen Hut bringen? Und inwiefern lässt sich eine Bewertung in Noten mit pädagogischen Zielen und Aspekten vereinbaren?

von Eiko Jürgens

 

Bildungsstandards sind als Reaktion auf die empirischen Befunde der PISA-Tests entstanden. Mit ihnen versucht die Kultus-verwaltung, über einheitliche (domänenspezifische) Abschlussorientierungen einerseits allgemein das Leistungsniveau in den Schulen zu steigern, andererseits durch eine bessere Vergleichbarkeit die Objektivität und Fairness von Abschlussprüfungen und Zertifikaten zu erhöhen.

Standards setzen voraus, dass man sich zuerst über die Bildungsziele verständigt, danach über die heranzuziehenden Kompetenzmodelle entscheidet und erst zum Schluss zu den Bildungsstandards kommt. Diese konzeptionelle Herangehens-weise geht von einem Ineinandergreifen von (schulischen) Kerncurricula und Bildungsstandards aus. Im Zentrum stehen Entscheidungen über Ziele und Inhalte, d. h. es stellt sich die Frage, welche Bildungsziele durch welche Kompetenzen abgedeckt werden sollen.

Abgesehen davon, dass Kompetenzen auf die Anwendung von Wissen fokussiert sind und damit – handlungs- und motivationstheoretisch gesehen – schulisches Lernen eine nachhaltigere Wirksamkeit entfalten kann, weil der unmittelbare Gebrauchswert für die Schülerinnen und Schüler „greifbar“ wird, ermöglicht der Einsatz von Kompetenzmodellen die konsequente Anpassung von Lernzielen an die heterogenen Lernausgangslagen der Schülerinnen und Schüler. Es wird deshalb eine große Chance mit der Einführung von abgestuften Kompetenzschemata für die „intensive Verstärkung der Individualdiagnostik“ und der Betonung des Primats der Förderung geboten (vgl. Saldern/Paulsen 2004, S. 98). Indem der Erwerb von Kompetenzen als ein systematisch und spiralförmig verbundener Prozess (Prinzip der Kumulativität) aufgefasst wird, können die Niveaustufen strikt auf den Lernenden abgestimmt werden (Prinzip der Adaptivität). Kompetenzorientierter Unterricht ist demnach zu verstehen als ein Angebot von Lernarrangements, in denen die gesamte Spanne von einfachen bis zu komplexen Fähigkeiten und Fertigkeiten abgedeckt werden kann und differenzierte Niveaustufen die inhaltlichen Anforderungen beschreiben.

Kompetenzorientierte Lernkultur

Eine kompetenzorientierte Lernkultur schreibt Bildung eine Eigendynamik zu, die die Schülerinnen und Schüler als wache, tätige, gestaltende und interpretierende Wesen begreift. So verstandene Bildung hat ihren Kern im Können und Handhaben, weniger in der bloßen Aneignung von Wissen und dem Sich-Auskennen in schulischen Lernbeständen. Von daher wird verständlich, warum Kompetenzen und Bildung eine so enge Verbindung eingehen, sich Bildung maßgeblich in Kompetenzen ausdrückt. Vielleicht kann man sogar so weit gehen zu behaupten, dass durch die kompetenzorientierte Unterrichtskultur Bildung ihren klassischen Kern emanzipativer Selbstwerdung zurückgewinnt. Das zeigt sich im Modell einer „ganzheitlichen“ Lernkompetenz, das für die (schulische) Bildung und Kultur fundamental ist, insofern es darum geht, mehr als Fachwissen zu vermitteln und dieses mit maßgebenden weiteren fachbezogenen und fächerübergreifenden Kompetenzen zu verbinden, wie Selbst- und Persönlichkeits-, Methoden- und Sozialkompetenz (vgl. Jürgens/Sacher 2008, S. 41)

Entscheidend ist auch, dass Kompetenzen über Lernziele hinausgehen, aber diese nicht ersetzen. Kompetenzen und Lernziele sind in der Weise strukturell miteinander verbunden, als Lernziele Kompetenzen unterrichtlich greifbar machen, indem sie den inhärenten Aufbau von Kompetenzen in Teilschritten kleinarbeiten, d. h. operationalisieren (vgl. Jank/Meyer 1990, S. 334). Zwischen Lernzielen und Kompetenzen können deshalb die Übergänge mitunter fließend sein.

Da kompetenzorientiertes Unterrichten und der erweiterte Lernbegriff, d. h. Lernen in fachlichen und überfachlichen, individuellen und sozialen Kontexten, miteinander korrespondieren, zieht das unumgängliche Konsequenzen für die Beurteilungsaufgabe nach sich.

Auf der einen Seite sind verschiedenartige Lernleistungen diagnostisch zu erfassen. Auf der anderen Seite sind Kompetenzüberprüfungen komplexer und benötigen den Gebrauch entsprechender Verfahren und Instrumente. Hinzu kommt, dass Kompetenzen theoretische Konstrukte sind und deshalb nicht direkt diagnostisch erfassbar sind, sondern lediglich indirekt über schreibbare Indikatoren.

Zwar werden Lernzielkontrollen weiterhin ihre Berechtigung behalten, aber neben klassischen werden ebenfalls vermehrt neue Formen der Diagnostik zum Einsatz kommen (müssen).

 

Pädagogisches Leistungsverständnis

Der schulische Leistungsbegriff ist in hohem Maße davon abhängig, welche Funktionen der Schule als gesellschaftliche Institution zugeschrieben werden. Unbestreitbar ist die Sicherung des „Rechts auf Bildung“ für jede nachwachsende Generation die Hauptfunktion. Unmittelbar in Beziehung damit ist die Förderfunktion zu betrachten, weil allein durch optimale individuelle Förderung die Talente und Potenziale der Kinder ausgeschöpft werden können. Somit soll Schule als eine pädagogische Institution zwar den Einzelnen zu Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit motivieren, doch in der Breite zwischen Persönlichkeitsbildung, Wissenserwerb und Anwendungsbezug vermitteln. Das „Pädagogische“ im schulischen Leistungsverständnis besteht deshalb darin, zwischen den in den Lehrplänen und Curricula legitimen gesellschaftlichen Erwartungen einerseits und den individuellen Bedürfnislagen andererseits eine für das Kind entwicklungsgerechte Relation herzustellen. Unter dieser Perspektive umfasst das pädagogische Leistungsverständnis der Schule folgende Dimensionen (vgl. Jürgens 2013):

  • Leistungen beziehen sich gleichermaßen sowohl auf Lernprozesse als auch auf Lernprodukte. Wege, Umwege, Fehler und Fehlerkorrekturen sind für das Lernen wichtig, weil sie Lernanstrengungen begleiten und dokumentieren, wie Lernprogressionen zustande gekommen sind. Lernergebnisse sind wichtig, weil sie bilanzierend den aktuellen Lernstand abbilden.
  • Leistungen können in Alleinautorenschaft und gemeinsam mit anderen entstehen. Die individuellen und sozialen Erfahrungen des Lernens sowohl unabhängig voneinander als auch zusammen gezielt nutzbar zu machen, gehört als Charakteristikum zur schulischen Leistungserziehung.
  • Leistungen entstehen aus problemmotivierten und vielfältigen Lernkontexten. Wird eine Lernproblematik als bedeutsam für die eigene Daseinsbewältigung beurteilt, dann entsteht Motivation aus der Sache heraus. Vielfalt beim Lernen eröffnet den Zugang zu diversen Anschlussmöglichkeiten und Kompetenzbereichen wie die Möglichkeit zur Stärkenorientierung und der Einbeziehung aller Sinne.
  • Leistungen sind auf herausforderndes Lernen angewiesen und zeigen sich im Wissen und Handeln. Der Zuwachs von Kompetenz und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit fördert Lernfreude, Anstrengungsbereitschaft und Durchhalte-vermögen.

Das pädagogische Leistungsverständnis trägt zur Wertschätzung der Lernentfaltung des Individuums in der Schule bei, indem Schülerinnen und Schüler Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit gewinnen und ein positives Selbstkonzept entwickeln können.

Das pädagogische Leistungsverständnis beugt einer verengten Sichtweise von schulischem Lernen vor, indem über den weitgehend kognitiven-reproduzierenden Aspekt hinaus weitere identitätsstiftende und soziale Lernbezüge hergestellt werden.

 

Formative und summative Prüfungs- & Feedbacksituationen

Eine Kernaussage des pädagogischen Leistungsverständnisses beruht auf der lerntheoretisch und didaktisch relevanten Erkenntnis, dass Schülerleistungen aus prozess- wie produktbezogenem Lernen hervorgehen. Formative und summative Beurteilungen bilden dazu das diagnostische Pendant. Formative Beurteilung (Prozessdiagnostik) hat den Vorteil, Unterrichts- und Lernprozesse unmittelbar beeinflussen, d. h. modifizierend oder korrigierend eingreifen zu können. Summative Beurteilung (Ergebnisdiagnostik) erfasst den Lernstand und Lernerfolg nach einer längeren Phase der Beschäftigung mit der Unterrichtsthematik. Obwohl nicht zwingend notwendig mündet Ergebnisdiagnostik zumeist in zeugnisrelevante Wertungen. Die Prozessdiagnostik hat ihre unbestreitbaren Stärken in lernbegleitender Kontrolle unterrichtlicher Prozesse. Dennoch sollte klar sein, dass formatives und summatives Beurteilen sich ausschließlich in der Taktung der Überprüfung des Lernerfolges unterscheiden. Während bei der Ergebnisdiagnostik die Zeiträume (Takte) der Evaluationen relativ weit gesteckt sind, im Allgemeinen eine Kontrolle erst nach Beendigung einer umfangreichen Unterrichtsreihe erfolgt, sind die Evaluationen bei der Prozessdiagnostik eng gesetzt, d. h. im Laufe der Lernaktivitäten finden nacheinander mehrere Kontrollen statt.

Die Qualität diagnostischer Urteile ist ein wichtiges Kriterium für die Stimmigkeit der Konsequenzen, die sich im Anschluss an den Prüfvorgang ergeben. Methodisch sollen einerseits gültige und zuverlässige Aussagen generiert werden, auf der anderen Seite sind in der Schule handhabbare Verfahren zu verwenden, die dem Nutzen angemessen sind. Weil an methodischen Mindestanforderungen keine Alternative vorbeiführt, bedeutet das gleichermaßen für die formative wie die summative Diagnostik, die Urteilsgenauigkeit so gut wie irgend möglich zu sichern.

Diagnostische Befunde sind (Moment-)Aufnahmen von Verhaltensausschnitten, die mehr oder weniger genau sein können und deshalb zurückhaltend interpretiert werden sollten. Das schließt das Wissen über die Vorläufigkeit von Prüfungsergebnissen ebenso ein wie über die Notwendigkeit, Kontrollvorgänge zu wiederholen.

Fördernde Bewertung ist sach- & individuumszentriert

Formative und summative Diagnostik sollen aus der Perspektive des Förderprinzips die individuellen Lernprozesse und den Unterricht steuern. Prozessdiagnostik ist integriert in das Unterrichtsgeschehen, die planmäßig und kriteriengeleitet als Fremd- und Selbstbeurteilung durchgeführt werden sollte und aufgrund mehrfacher Kontrollen das Sammeln und Auswerten vielfältiger Informationen ermöglicht, wodurch die Feedbacks sowohl situationsnah als auch personenzentriert ausfallen.

Formative Diagnostik hat einen positiven Einfluss auf die Motivation und Lern- und Leistungsentwicklung des Heranwachsen-den, weil sie vor allem die individuelle Bezugsnorm berücksichtigt. Darüber hinaus geben formative Lernkontrollen den Lehrenden und Lernenden die Möglichkeit, curriculare Verbindungen zwischen individueller und kriterialer (lernziel-bezogener) Bezugsnorm herzustellen, indem nunmehr gefragt wird: Was hat die Schülerin oder der Schüler dazugelernt und welches curriculare Lernziel wurde damit erreicht bzw. wie weit wurde auf dem Weg zur Lernzielerreichung vorangeschritten? Die individuell differenzierte Verknüpfung der individuellen mit der kriterialen Bezugsnorm eröffnet einen fließenden Übergang zum kompetenzorientierten Unterricht und Einsatz diagnostischer und didaktischer Kompetenzraster. Außerdem bietet der Konnex von individueller und kriterialer Normkategorie in formativen Lernkontrollen dem Kind den Vorteil, Transparenz bezüglich der Anforderungen für die summative Diagnostik am Ende eines größeren Unterrichtsabschnittes zu erhalten.

Weil es im kompetenzorientierten Unterricht darum geht, neben fachlichem und überfachlichem Wissen auch methodisches Wissen und Selbst- und Persönlichkeitskompetenz zu ermöglichen, müssen sich die Kontrollmethoden auch darauf beziehen. Erst wenn die in der Breite erbrachten Lernleistungen als Kompetenzentwicklungen wahrgenommen werden, erhalten sie die nötige Anerkennung. Die wichtigste Herausforderung liegt dann allerdings darin, über geeignete Verfahren zu verfügen, mit denen systematisch, kriteriengeleitet und strukturiert Lern- und Leistungsfortschritten nachgespürt werden kann.

Problematik: Eindimensionalität der Zensurengebung

Die Kritik an der Zensurengebung steht unter dem Einfluss pädagogischer, diagnostischer und didaktischer Vorbehalte. Schon früh ist darauf hingewiesen worden, dass die Einführung der Zensurengebung nicht auf pädagogischen Argumenten gründete, sondern der Legitimation diente, wenn Schülerinnen und Schüler aufgrund ihrer Position in der Rangordnung eine „soziale“ Begünstigung erfahren sollten. Bei diesem System der Rangordnung ist es bis heute geblieben. Die Aussagekraft, die eine Zensurenskala hat, ist äußerst simpel. „Sehr gut“ ist besser als „Gut“ und „Gut“ ist besser als „Befriedigend“ und so weiter. Aber das ist es auch schon, mehr lässt sich einem Zensurenspiegel nicht entnehmen: Weder welche Leistungsparameter, welche individuellen Lernentwicklungen oder Lern- und Kompetenzziele hinter den Zensuren stehen, noch welche Mindest-kompetenz(en) für die Zuweisung zu einem bestimmten Rangplatz ausschlaggebend war. Derartige Informationen „verschwin-den“ genauso wie die konkrete individuelle Leistung hinter der Zensur.

Von daher sollte diese Beurteilungsform – soweit die Zensurengebung verpflichtend ist – zurückhaltend eingesetzt werden und auf das beschränkt werden, wozu sie in gewisser Weise einen Beitrag leisten kann. Für unterrichtliche und erzieherische Maßnahmen ist die eindimensional vergleichende Zensurenskala weitgehend ungeeignet, weil letztlich die Pädagogische Diagnostik adaptiv auf die Lern- und Leistungsentwicklung des Individuums gerichtet ist, d. h. die individuelle Bezugsnorm zum Maßstab hat. Doch die individuelle Bezugsnorm ist nicht sinnvoll mit der Zensurenskala zu verbinden, weil die Benotung des intraindividuellen Lernzuwachses nichts darüber aussagen könnte, wie weit die betreffende Person die sachliche Lehrplan-anforderung erfüllt hat. So gesehen könnte die intraindividuelle Steigerung zwar sehr bedeutend sein, trotzdem bliebe die Leistung unter Heranziehung curricularer Kriterien möglicherweise weiterhin unzureichend. Das ist mit Eindimensionalität der Zensurengebung gemeint. Übertragen auf die Prüfung von Kompetenzen bedeutet das, dass z. B. fachliche und methodische Kompetenzen nicht zusammen durch eine Zensur abgebildet werden können, sondern getrennt beurteilt werden müssen.

Im Klartext: Fachliche Leistungen sind so rein wie möglich zu erfassen und zu zensieren. Das gilt für methodische und andere Leistungen ebenfalls, denen dann wiederum eigene Zensuren zugewiesen werden, die auch aufgrund der unterschiedlichen Wertigkeiten der Leistungen nicht miteinander verrechnet werden dürfen, u. a. aus Gründen der Objektivität und Validität.

Wer also „pädagogische“ Leistungsbewertungen wünscht, braucht unterschiedliche Bewertungssysteme und -konzepte; alles in eine „fachliche“ Zensur packen zu wollen, ist weder pädagogisch noch diagnostisch verantwortungsvoll. Das bedeutet allerdings auch zu akzeptieren, dass eine Reihe wichtiger schulischer Erziehungs- und Bildungsziele von der Zensurengebung ausgeschlossen sind, nicht aber von sinnvollen Feedback- und Reflexionsprozessen, die für individuelle Lernentwicklung unverzichtbar sind.

Literatur

Jank, W./Meyer, H. (1990): Didaktische Modelle. Grundlegung und Kritik. Universität Oldenburg. Zentrum für Berufspraxis

Jürgens, E. (2013): Leistungsverständnis – eine Klärung vorweg. In: SchulVerwaltung spezial, 14. Jg., Heft 1/2013, S. 8-10

Jürgens, E./Sacher, W. (2008): Leistungserziehung und Pädagogische Diagnostik in der Schule. Grundlagen und Anregungen für die Praxis. Stuttgart: Kohlhammer

Saldern, M.v./Paulsen, A. (2004): Sind Bildungsstandards die richtige Antwort auf PISA? In: Die Deutsche Schule. 8. Beiheft, S. 66-100

 

Eiko Jürgens ist Universitätsprofessor

für Schulpädagogik an der Universität Bielefeld.

ejuergens@uni-bielefeld.de

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