Schwierige Notengebung

Ich sitze vor den Schularbeiten meiner Mädels und kritzle mit einem Rotstift meine Verbesserungen und Anmerkungen hin. Da findet sich die etwas unsichere Welle, die deutlich macht: „Da stimmt was nicht, es ist ja nicht wirklich falsch, aber…“; dann gibt es den entschiedenen Strich, der wie ein Säbel zwischen die Zeilen fährt und streicht, was nicht hingehört, und es gibt den spitzigen Pfeil: „Überdenk das bitte!“ sowie die nicht ganz perfekte Ellipse, die irgendwelche wiederholten Ungereimtheiten markiert.

Doch da gibt es noch was, wofür ich Rot verwende, und ich habe immer ein sehr seltsames Gefühl dabei: „Nette Idee!“, „ Gut gesagt!“, „Originell!“. Ich meine, mal ganz ehrlich: Da passt doch Rot nicht hin. Rot ist schneidend, warnend, stopp, Alarm, Verzweiflung. Ich würde gerne und eigentlich in einer anderen Farbe korrigieren, traue mich aber nicht. Rot ist die offiziell anerkannte Korrekturfarbe. Bei der Korrektur von Hausarbeiten erlaube ich es mir, es etwas bunter zu treiben.

Liebe Kollegin und lieber Kollege, ich weiß, was Sie jetzt denken: „Mach’s dir doch nicht so schwer, such nicht ein Problem, wo keines ist, das ist ja nun wirklich völlig gleichgültig.“

Sind Sie sich sicher, dass das egal ist? Farben haben was Symbolhaftes an sich, zeigen etwas von einer Haltung und irgendwie psychologische Wirkung.

Aber ja, ich gebe zu, er überkommt mich nur manchmal, dieser Gedanke, war heut halt mal wieder da…

 

Verfolgungswahn

Freiwillige Prüfungen: Suspekt! Die kalkulieren, die Schülerinnen und Schüler! Der oder die  tut sonst möglicherweise überhaupt nichts mehr! Nein, nein, nein!

Prüfungskalender: Oje, oje! Ich will, dass sie mitlernen! Wiederholte Wiederholung tut gut! Lernen festigt sich nur so; wenn Schülerinnen und Schüler nicht wissen, wann sie drankommen, sind sie immer vorbereitet.

Noten von 1 bis 10: Wenn ich nicht unter 4 hinunter darf, dann geh ich auch über 8 nicht rauf! Ok, das ist jetzt eher was für Mathematiker, die reden gerne von mathematischem Gleichgewicht.

Mitarbeitsnote: Ja, die gibt man schon, aber sie zählt nur zum Aufrunden – oder Abrunden.

Hausarbeiten: Wer weiß, wer die gemacht hat…

Blitztests: Ja, da kriegt man sie; eignen sich auch gut zur Bestrafung!

Komplizierte Notenskalen: Damit mir keiner mit einem Rekurs beikommt!

 

Entfremdung 1: Nummern

„Du bist die Nummer 3 in meiner Schülerliste.“ Es gibt Kollegen, die wählen ihre Prüfungskandidaten aus, indem sie die Seite eines Buches aufschlagen und in einer komplexen Addition die Alphabet-Nummer ermitteln, die heute dran ist. Nur der Zufall ist gerecht.

„Das ist ein 8er-Schüler, jener ein 5er.“ Aber auch die Schüler machen das so: „Der Lehrer geht eh nur bis 9, da kannst du tun, was du willst. Bei jenem komm ich über eine 6/7 nicht hinauf.“

 

Entfremdung 2: Leistungskontrolle

Und wieder habe ich vierundzwanzig gleiche Tests zu korrigieren, o.k., vielleicht zweimal zwölf, weil ich ja zwei Gruppen gemacht habe. Ich hab sie schon zehn Tage zu Hause, ich sollte mich dran machen. Uff! Muss das denn sein? Jaja, das muss. Hör auf zu stöhnen und mach dich dran: Zwölf gleiche Tests, irgendwann korrigierst du sie sozusagen mit geschlossenen Augen, ein Häkchen hier, ein Strich dort. Und dann die Summe der Punkte und ein Blick auf die Bewertungsskala und du weißt, was die Schülerinnen und Schüler jetzt wissen.

Leistung muss erbracht werden, bewiesen, kontrolliert, dokumentiert. Leistungsgesellschaft, Leistungssteigerung, Leistungsprämie.

 

Schräge Gründe

Nur wer Leistung erbringt, wird sich im harten Leben durchsetzen, in der Wirtschaft von heute zählen nur Daten und Zahlen, Prozente und Wachstumskurven. Eine Rechtfertigung, es in der Schule ebenso zu machen.

Das „von heute“ ist aber schon Jahrzehnte alt. Und ehrlich gesagt, wer hinschaut, der sieht, dass die Wirtschaft selbst dieses Dogma zu überwinden beginnt. Wir hinken da ein bisschen nach! Zumindest in der Personalaufnahme spielen Zahlen nicht mehr die Hauptrolle, folglich auch ein Zeugnis nicht. Wer weiß schon, was wirklich hinter einer Sieben, einer Acht, einer Neun steht?

Auch wenn wir Lehrer unseren Noten Objektivität und Wahrheit bescheinigen, in der Logik eines Systems, das schon bei unserem Kollegen nicht mehr dasselbe ist – wirklich aussagekräftig sind diese Zahlen nicht. Das müssen wir uns eingestehen. Sie sind ein Mittel, irgendetwas zu erfassen. Überdenken wir gut, was. Und wie wir es dann kommunizieren und kommentieren.

Eine Schülerin schrieb: „Die Schule testet dein Gedächtnis, nicht deine Intelligenz“. Sie meinte es als Trost. Bedenklich genug, würde ich meinen.

Fanni A. Storch

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