Fit für die Kommunikation

Was antworten Sie, wenn man Sie fragt: „Sind Sie mehrsprachig?“ Viele werden diese Frage wohl nur mit einem Ja beantworten, wenn sie nicht in einer zweisprachigen Familie aufgewachsen sind. Doch auf die allermeisten Personen trifft dies nicht zu und doch können sie mit mehreren Sprachen umgehen. Wie nennen wir denn diese?

von Rita Franceschini

Viele Personen werden auf die obige Frage wohl eher mit Nein antworten, dabei außer Acht lassend, dass sie sehr wohl im Verlauf ihres Lebens in der Schule oder auch außerhalb einer Institution eine 2. oder 3. Sprache erworben haben, und ebenso übersehend, dass das sprachliche Repertoire eines Menschen im Verlaufe des Lebens in verschiedene Richtungen wachsen kann, sich differenzieren kann. Dabei ist es ganz normal, dass man eine Sprache (oder Dialekt) besser beherrscht, eine andere Sprache weniger gut, ein dritte nur für bestimmte Zwecke einsetzen kann, etc. Ich kann mich beispielsweise auf Englisch schlecht über Kochen unterhalten, da fehlt mir das entsprechende Vokabular; über Sprachliches fachsimpeln kann ich hingegen auf Englisch sehr wohl.

Es ist der Normalfall, dass man die – wie auch immer erworbenen – Sprachen im eigenen Repertoire unterschiedlich beherrscht. Hier setzt nun die Definition von funktionaler Mehrsprachigkeit an. Sie hält nicht an der Beherrschung der Sprachen als alleiniges Merkmal fest, sondern setzt die instrumentelle Fähigkeit ins Zentrum: Was kann ich konkret mit einer Sprache tun? Wofür kann ich sie einsetzen? Bis wohin reicht meine Kompetenz? Und es ist ganz in Ordnung, wenn man dabei nicht alles in jeder Sprache perfekt kann. Man kann es zwar anstreben, perfekt zu werden, aber so wie im Sport erreicht man nicht notwendigerweise gleich eine Goldmedaille. Sportlich kann man trotzdem sein.

Fit, aber kein Muskelpaket

 

Was beim Sport nicht stört, soll dies auch bei Sprachenlernen nicht: Wichtig ist doch für die Mehrheit, dass man sich bewegt und Freude hat, nicht dass man eine Auszeichnung erhält. Das Ziel sollte sein, dass man Sprachen einsetzen kann, auch wenn es sich nicht immer zu 100% perfekt anhört. Niemand ist perfekt.

Der Begriff der funktionalen Mehrsprachigkeit will genau dies fassen und den Gebrauch von mehreren Sprachen in den Vordergrund stellen: Kann jemand gut erzählen und ist witzig? Kann jemand gut verkaufen, auch wenn er (oder sie) etwa mit Händen und Füßen spricht? Und stört es wirklich die Kommunikation, wenn mal hie mal da ein Fall oder eine Zeitform nicht ganz korrekt ist?

Unter funktionaler Mehrsprachigkeit versteht man deshalb allgemein die Fähigkeit, in mehr als einer Sprache kommunizieren zu können. So scheint es z. B. in den Dokumenten des Europarates auf, welcher seit mehr als einem Dutzend Jahren sich für dieses Konzept stark macht. Im Übrigen wurde der Begriff der funktionalen Mehrsprachigkeit auch ins Zentrum des Sprachenkonzepts für Südtirol gestellt: Das Ziel soll sein, kommunizieren zu können: in der ersten, zweiten, dritten Sprache. Und man soll die Sprachen – auch die Erstsprache – nicht ohne Bezug zum konkreten Gebrauch lernen. Die richtigen Formen dazu wollen sehr wohl gelernt sein, doch nicht als Selbstzweck. Die Form steht hinter der Funktion, die Funktion ist im Vordergrund. Die Formen werden für die Realisierung der Funktion gelernt: Ich will eine Karte schreiben? Welche Formen und Formeln brauche ich dazu? Wie ist die Du- oder die Sie-Form? Man lernt die Formen, um sie anzuwenden: um einen bestimmten Zweck zu erreichen, um eine Aufgabe zu erfüllen.

Die Form folgt der Funktion

Anfänglich stellte diese neue Sichtweise eine Umkehrung der für lange Zeit gängigen Praxis im Fremd- oder Zweit-sprachenunterricht dar, der meist auf Formen(-drill) gründete: Zuerst wurden die Formen (z. B. in Verbtabellen) gelernt, geübt und eingeschliffen, dann wurden sie angewandt. Nur: diese Phase des kontextlosen Übens macht vielen, vorab jungen Schülerinnen und Schülern Schwierigkeiten, so dass es ewig dauert, bis die Formen „sitzen“; für deren praktische Anwendung fehlt dann die (Schul-)Zeit.

Es haben sich zwischenzeitlich viele Neuerungen in deren Schulwelt breit gemacht, sodass die eben beschriebene Vorgehensart in der Vereinfachung sich zu drastisch anhört und der Vergangenheit angehört. Eine realistischere Arbeitsweise hat sich breit gemacht, unterschiedliche Formen des Unterrichts haben sich etabliert (Stichwort: individualisiertes Lernen). Parallel dazu hat sich unser Wissen über die Mechanismen des Spracherwerbs stark erweitert, die Forschung dazu ist nicht mehr überblickbar. Dieser wachsende Kenntnisstand hat sich wiederum auf die Schulwelt ausgewirkt: Heute wird im Schulunterricht so weit wie möglich versucht, authentische Situationen zu schaffen, die dem natürlichen Spracherwerb nachempfunden sind. Dabei wird der Lernende als sozial Handelnder gesehen, der mit der Sprache Aktivitäten mit ganz praktischem Sinn vollzieht: Z. B. sich Informationen und Güter beschaffen, Vereinbarungen treffen und Sms-schreiben.

Wir lernen (mindestens) die Erstsprache in unserer Kindheit durch das Handeln mit ihr, ganz konkret in Interaktion mit dem je eigenen Umfeld, in das man hineingeboren wird. Weshalb soll es mit den weiteren Sprachen nicht auch – mindestens ein Stück weit – so sein, dass man sie über konkrete Handlungen lernt, auch in der Schule?

Durch die Anwendung lernen wir (auch)

 

Dieser eben wiederum nur kurz skizzierte Ansatz ist nun weit verbreitet. Der Begriff der funktionalen Mehrsprachigkeit steht beispielsweise im Einklang mit dem „Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (GER)“ für Sprachen, bei dem der Sprecher auch als Handelnder verstanden wird. Er kann bestimmte Aufgaben in unterschiedlichen Sprachen vollziehen (beim Reden, Schreiben, Verstehen) und je nach Sprache unterschiedlich gut. Normalerweise erreicht man nicht in allen Sprachen und in allen Fertigkeiten das Maximum (im GER: das Niveau C2), doch ist diese Tatsache noch lange kein Grund, die nicht voll ausgebauten Sprachkenntnisse nicht als ein Gut zu betrachten, mit dem wir – mehr oder weniger erfolgreich – kommunizieren können. Auch diese Sprachen gehören zum Repertoire, auch wenn man nicht in einer zweisprachigen Familie aufgewachsen ist. Übrigens: Dialekte gehören auch zum Sprachrepertoire und bereichern unser Sprachwissen!

Jeder Mensch trägt das Potenzial in sich, Sprachen weiter auszubauen, für immer mehr Funktionen, mit immer mehr Formen. Vielleicht will ich ja beispielsweise meine Kochkünste erweitern und eigne mir nun den geeigneten Wortschatz auf Englisch an (oder vielleicht doch eher das französische Küchenvokabular?).

Wenn Sie also das nächste Mal gefragt werden „Sind sie mehrsprachig?“, antworten Sie nicht gleich mit Nein. Fragen Sie sich vielmehr, in wie vielen Sprachen/Dialekten Sie kommunizieren können. Und antworten sie dann, den Perfektionismus einmal beiseite lassend: „Ja, ich bin funktional mehrsprachig!“

 

 
 
Rita Franceschini leitet das Kompetenzzentrum Sprachen der Freien Universität Bozen.

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