Von Sprachrevieren zum sozialen Raum

Dem Mythos vom Land der Mehrsprachigkeit und kulturellen Vielfalt wirkt ein ebenso hartnäckiger Pessimismus entgegen, dass man in Südtirol leichter einsprachig bleibt als mehrsprachig wird. Dazwischen liegt der brachliegende Raum sozialen Lernens.

Plädoyer für einen Paradigmenwechsel.

von Irene Cennamo und Hans Karl Peterlini

 

Es war nur auf den ersten Blick eine verblüffende Entdeckung, als im Forschungsprojekt „Jugend und interkulturelle Kompetenz in Südtirol“ (Chisholm/Peterlini 2012) die Sprache nicht als Brücke, sondern als Hindernis zum jeweils „Anderen“ benannt wurde, aber nicht etwa, weil fehlende Sprachkenntnisse die Kontakte erschweren, sondern umgekehrt: hemmend sei die übergroße Bedeutung, die in Südtirol einem möglichst perfekten Spracherwerb zugeschrieben wird. In diesem Habitus der near nativeness (vgl. Volgger 2011), einer entmutigenden Orientierung von zusätzlichen Sprachkenntnissen an erstsprachlicher Kompetenz (vgl. Cennamo 2013), zeigt sich ein prinzipielles Dilemma des Spracherwerbs, weshalb namhafte Sprachwissenschaftler wie Bausch, Königs, Krumm, Helbig, Wandruszka für eine funktionale Einschränkung und Anwendungsbezogenheit von Sprachkenntnissen plädieren. In Verbindung mit dem maximalistischen Anspruch schmälert in Südtirol die „Reduktion von interkultureller Kompetenz auf die Themen Sprachen lernen und Zweisprachigkeit“ (Chisholm/Peterlini: 20) zusätzlich die Freude am interkulturellen und sprachlichen Lernen.

Auf der einen Seite wirkt immer noch die Sorge nach, ein zu früher oder in „gemischten“ Familien, Gruppen, Schulen wild wuchernder Sprachenerwerb außerhalb des geordneten, nach Sprachen getrennten Bildungssystems könnte die „Muttersprache“ beschädigen. So pionierhaft Kurt Egger und Franz Lanthaler diese Ängste durch Forschung beruhigt haben, so hartnäckig haben sie sich bisher erhalten. Auf der anderen Seite wird, im Zuge globalisierter Arbeitsmärkte, der Erwerb von Sprachen politisch und ökonomisch eingefordert, um „Fit für Europa“ (Baur/Larcher 2011) zu sein. So steht der Sprachenerwerb unter dem gegenläufigen Druck des Nicht-Dürfens und Sollens, der intrinsische Motivation zum Erlernen der Sprache des jeweils Anderen beeinträchtigt.

 

Ein feineres Hinhören

Einen möglichen Ausweg bietet die Blickverlagerung von einem normativen, normierten und normengläubigen Sprach-erwerbskonzept (wer soll wann welche Sprachen wie in welcher Qualität in welchem Bildungssystem wofür lernen) hin zur schlichten Frage nach dem Wo und Wie. Der Gedanke des Raumes (Spatial Turn) in den Sozialwissenschaften und auch in der Pädagogik (Westphal 2007) öffnet den Blick für das informelle Lernen jenseits strukturierter Lernsettings, auch abseits des bildungspolitisch Gewollten und Geforderten, deshalb aber nicht minder fruchtbar. Soziale Räume bergen übersehene Ressourcen des Lernens, die gerade auch benachteiligten Gruppen zugute kommen können, wogegen vielleicht Kinder aus höheren Einkommensschichten eher fragmentierte Lernwelten zwischen Kurs hier, Training dort erleben, zu denen sie von gestressten Eltern kutschiert werden (ebd.: 166). Ein genaueres Hinsehen und feineres Hinhören, ein „lingustic landscaping und soundscaping“ nach Schulz/Gogolin (2012: 204) ist eine notwendige Forschungshaltung, um mehrsprachige lebensweltliche Kommunikation in gesellschaftlichen und individuellen Alltagshandlungen überhaupt erst wahrzunehmen.

Der Raum Südtirol ist, als sozialer Raum gedacht, kein gemeinsamer Raum der hier lebenden Sprachgruppen, sondern ein Raum getrennter Geschichte(n), getrennter Strukturen, getrennter Identitäten, getrennter Sprachwelten. Die sprachliche Landkarte zeigt kein durchgehend mehrsprachiges Territorium, sondern ein Nebeneinander soziolinguisti-scher Sprachräume mit einigen (urbanen) Zentren, in denen mehrheitlich Italienisch gesprochen wird, und groß-

flächigen (ruralen) Zonen, in denen nahezu ausschließlich Dialekt/Deutsch oder Ladinisch gesprochen wird. So könnte dieser Raum, entgegen dem Mythos der Sprachenvielfalt, als ungeeignet für den Sprachenerwerb gelten. Räume in solchem Sinne lassen sich nämlich nur gestalten, wenn Menschen eigenes Erleben einbringen und (positive wie negative) Erfahrungen darin sammeln können. Dazu ist die Auseinandersetzung mit jenen Möglichkeiten und Hindernissen von Bedeutung, die über Zugehörigkeit und Ausschluss entscheiden. Die Beschreibung der Situiertheit sprachlicher Praktiken und des Einflusses sozialräumlicher Faktoren auf den Umgang mit Sprachen bietet deshalb neue Antwortmöglichkeiten auf die alte Frage, warum die einen die (Landes-)Sprachen lernen und die anderen anscheinend (oder scheinbar) die Gelegenheit versäumen.

 

Barrieren und Auswege

In Weiterentwicklung des Gedankens eines „Dritten Raumes“ (nach Homi Bhabha) überlegen Baur und Larcher (2011: 149ff), wie die Barrieren überwunden werden könnten – als Utopie gemischter Lerngruppen, als subversives Lernen in Heterotopien außerhalb normierter Räume oder, als einfachster Weg, gar im Ausland oder mittels einer gemeinsamen Fremdsprache als dritten neutralen Ort.

Angesichts von Diskussionen, die sich im Kreis drehen (warum lernen „die Italiener“ nicht Deutsch, warum lernen „die Deutschen“ immer weniger gut Italienisch, warum lernen „die Ladiner“ beide zusätzlichen Landessprachen auf beachtlichem Niveau, vgl. Franceschini 2010), könnte die Ausflucht in einen Dritten Raum verlockend sein. Der doppelte „institutionelle Monokulturalismus“ in Südtirol (Dietz 2010: 133) prägt zwar nicht böswillig, aber dennoch maßgeblich das Denken und Handeln der Bürger/innen in ihrem Alltag; er wird so zu einer Normalität, die nur noch an einem anderen, dritten Ort oder mit einer lingua franca überwindbar scheint. Die Zwei-Klassen-Mehrsprachigkeit (vgl. Krumm 2013) privilegiert vor allem Englisch, aber auch Französisch und mittlerweile Russisch als prestigeträchtige Sprachen, denen man „vorurteilsloser“ begegnet und deren Erlernen einen Mehrwert verspricht, weshalb dafür Anstrengung weniger gescheut wird. Solche Wertigkeiten der Sprachen werden gesellschaftlich diskursiv hergestellt: Dem geforderten Erwerb der zweiten Landessprache steht eine lange Geschichte gegenseitiger Abwertung entgegen (die Sprache des „fremden Staates“, das „nicht richtige Deutsch“ der ethnischen Minderheit). Dagegen kommt Schule schwer an: Lehren und Lernen werden (u. a. nach Bourdieu) von sozialen Werthaltungen und (sprach)politischen Diskursen mitbestimmt und sind somit keineswegs vom Denken und Handeln der im Bildungssystem Tätigen unabhängig (vgl. Cennamo 2013).

 

Homogenität als Verlust

Dass in diesem Raum Südtirol mit seinen abgeschotteten Subräumen jeweils neue Familiensprachen jüngerer oder älterer Migration dazugekommen sind, könnte – auf den ersten Blick – die Schwierigkeiten noch potenzieren. Ein Sprachenmodell, das jeder Sprache ihr Revier zuweist, wird durch die Migrationstatsache herausgefordert und problematisiert. Um daran festhalten zu können, müsste – im Widerspruch zur deklarierten Minderheitenpolitik – auf Assimilation von allem Abweichenden in die eine oder in die andere Sprachwelt gesetzt werden, also aus allen Migranten/Migrantinnen entweder „eher deutsche“ oder „eher italienische“ Bürger/innen zu machen, wie ja auch die Ladiner einem starken Sog in die deutsch-italienische Dichotomie ausgesetzt sind (Chisholm/Peterlini: 30). Diese Tendenzen folgen dem Konzept einer in Reviere aufgeteilten Monolingualität.

Die Frage ist, ob dies erstens eine umsetzbare, zweitens eine wünschenswerte Strategie sein kann. Was geht in einem Raum verloren, wenn er sprachlich-kulturell homogenisiert wird? Mit Bezug auf die Studie „Multilingual Cities“ verweist Krumm (2013) darauf, dass Kinder mit Migrationshintergrund (wissenschaftlich sinnvoller: mehrsprachig sozialisierte Kinder) oftmals zwei oder drei Sprachen in Kindergarten und Schule mitbringen, die dort aber nicht immer angemessen wertgeschätzt werden, während sie – paradoxerweise – in der Wirtschaft stark nachgefragt sind. So verliere allein Österreich sieben Mrd. Euro an Exporterlösen, weil an den berufsbildenden Schulen nicht genug Sprachvielfalt angeboten wird. Wie andere Linguisten plädiert Krumm dafür, den diversifizierten muttersprachlichen Unterricht nicht nur für Migrationskinder auszubauen, sondern auch für Kinder deutscher Erstsprache zu öffnen (ebd.).

Eine solche Vision, die im Wissenschaftsdiskurs gar nicht mehr neu ist, mag Politik- und Alltagsdiskurse noch irritieren, insbesondere dort, wo Identität eng mit Festigung in einer Sprachkultur verknüpft ist, so dass Mehrsprachigkeit und Mehrfachzugehörigkeit als Bedrohung empfunden werden. Gerade dabei kann der Blick weg von sprachlichen Normierungen (wer wie wo mit wem auf welchem Level sprechen soll/darf) hin zu sozialen Räumen hilfreich sein (wer wo wie mit wem spricht/sprechen möchte). Der soziale, lebensweltliche Raum ist gegenwartsbewussten und zukunftsfähigen Gesellschaften nur in seiner transkulturellen Komplexität, in seiner Mehrsprachigkeit und Pluralität vorstellbar. Wo im normierten Raum Sprachbarrieren und Hemmschwellen entstehen, kann die – wissenschaftliche, bildungsstrategische, sprachpolitische – Wahrnehmung, Erschließung und Öffnung des sozialen Raumes interkulturellen Austausch, kommunikative Begegnung, kreative Verwirklichung als Sprechen von Menschen im weitesten Sinne fördern.

Literatur

Baur, S./Larcher, D. (2011): Fit für Europa. Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit in Südtirol. Meran/Klagenfurt

Cennamo, I. (2013): Doing Difference im Schulalltag. Orientierungs- und Handlungsformen lebensweltlich mehrsprachiger 12 - 14jähriger Schüler und Schülerinnen an Südtirols einsprachigen Schulen. Erfahrungsberichte über den Balanceakt zwischen sozial-plurilokaler, mehrsprachiger Subjektpositionierung und monolingualer Habitualisierung. Dissertation. Bozen/Brixen

Chisholm, L./Peterlini H.K. (2012): Aschenputtels Schuh. Jugend und interkulturelle Kompetenz in Südtirol/Alto Adige. MeranDietz, G. (2010): “Ethnographic Methodology in Intercultural Education. An Appraisal of Ingrid Gogolin's Contributions”. In: Krüger-Potratz, M./Neumann, U./Reich, H. H. (Hg.): Bei Vielfalt Chancengleichheit. Interkulturelle Pädagogik und Durchgängige Sprachbildung. Münster-New York, 132-141

Franceschini, R. (2010): „Der mehrsprachige Habitus“. In: Krüger-Potratz/Neumann/Reich, 316–329

Gogolin, I./ Schulz, M. (2012): „Der LiMA-Masterstudiengang Mehrsprachigkeit und Bildung“. In: Fürstenau, S. (Hg.): Interkulturelle Pädagogik und Sprachliche Bildung. Wiesbaden, 201-218

Krumm, H. J. (2013): Zwei-Klassen-Mehrsprachigkeit in der Schule, http://science.orf.at/stories/1713533 [14.8.2014]

Reich, H. H./Krumm, H. J. (2013): Sprachbildung und Mehrsprachigkeit. Ein Curriculum zur Wahrnehmung und Bewältigung sprachlicher Vielfalt im Unterricht. Münster/New York

Volgger, M.-L. (2011): Das multilinguale Selbst im Fremdsprachenunterricht. Zur Mehrsprachigkeitsbewusstheit lebensweltlich mehrsprachig Französischlerner(innen). Dissertation. Wien

Westphal, K. (Hg.) (2007): Orte des Lernens. Beiträge zu einer Pädagogik des Raumes. Weinheim/München

 

 

Hans Karl Peterlini ist Forschungsmitarbeiter und Vertragsdozent der Universitäten Bozen und Innsbruck;

für das Studienjahr 2014/2015 übernimmt er die Professur für Allgemeine Erziehungswissenschaft und Interkulturelle Bildung in Klagenfurt.

Irene Cennamo ist Forschungsbeauftragte an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Freien Universität Bozen im sozialpädagogischen Bereich der "Übergangsforschung" und Vertragsdozentin der FUB im Bereich Sprachendidaktik, Sprachenvielfalt und Lernen

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