Zwischen Bereicherung und Bloßstellung Kritik-, Feedback- und Fehlerkultur als Voraussetzung für demokratische Teilhabe: Was kann Schule dazu beitragen, was verhindert sie? von Hans Karl Peterlini
Kritikübung an einer Südtiroler Grundschule: Auf dem Stuhl der Lehrperson sitzt Peter, seine Beine reichen nicht zum Boden, die Füße baumeln in der Luft. Er schaut in die Runde, vor ihm sitzen seine Mitschüler/innen. Die Lehrperson steht an der Tür, sie verschränkt die Arme und zeigt Peter mit einem Nicken, dass er nun beginnen kann. Peter fragt, wer etwas vorbringen möchte. Franz meldet sich zu Wort und beklagt sich über eine Gruppe von Kindern, die im Schulhof zu wild seien. Dabei blickt er immer wieder zur Lehrkraft. Prompt meldet sich Sabine: „Franz hat dumme Kuh zu mir gesagt.“ Peter schaut in die Runde und ermahnt ein Kind, weil es von seinem Stuhl aufgestanden ist. Franz schaut zur Lehrkraft und meldet sich noch einmal: Josef soll vom Pausenhof ausgeschlossen werden. Josef ruft wütend etwas hinaus. Peter ermahnt Josef. Georg beschuldigt nun ebenfalls Franz, der von Florian verteidigt wird. Josef hält die Hand auf und verlangt, dass Franz auch von der Pause ausgeschlossen wird. Peter schaut die Lehrkraft an, die immer noch unbewegt am Rand der Klasse steht. Petra hält schüchtern die Hand auf, wird aber übersehen. „Die sind alle so gemein“, sagt sie leise vor sich hin. Das in seinem genauen Ablauf veränderte und anonymisierte Beispiel zeigt ein mögliches Dilemma auf, wenn Schule über gezielte Übungen zur Förderung von Kritik- und Feedbackkultur und damit im weitesten Sinne zu einer demokratischen Teilhabe von Schülerinnen und Schülern beitragen will. Die beschriebene Schulstunde artete in einer gegenseitigen Denunziation von Kindern aus. Als die Lehrkraft im Anschluss daran gefragt wurde, wo sich in dieser Dynamik ihre Macht gezeigt habe, antwortete sie gleich verwundert wie dezidiert: „Ich übe keine Macht aus.“ Dass einzelne Kinder gerade dann, wenn sie gegen Störenfriede das Wort erhoben und Strafe verlangten, zu ihr hingeschaut hatten, war ihr offenbar nicht aufgefallen. Die Lehrperson hatte zwar für diese Übung ihre Macht an Peter abgegeben, das hierarchische und disziplinarische Regelwerk, in das Schülerinnen und Schüler ebenso wie die Lehrkraft eingesponnen sind, war damit aber noch nicht aufgehoben. Die Kinder begannen sich zu beschuldigen und zu bestrafen; zugleich fehlte ihnen im Umgang mit dieser auf sie übertragenen Macht jede professionelle Distanz und Verantwortung. In einem anderen Fall eröffnet die Lehrkraft die Sitzung und übergibt einer Schülerin die Moderation. Diese nimmt auf einem eigenen Pult Platz und eröffnet die Diskussion, worauf die Lehrkraft ihr gleich das Wort abnimmt und sagt, jetzt müsse sie etwas sagen. Es folgt eine Standpauke, dass die Schüler/innen mit ihrer Verantwortung nicht umgehen können, die Zeit für freies Arbeiten mit Blödeln verplempern, sich die Zeit nicht einteilen würden, nicht ausreichend sorgfältig arbeiten. Dann gibt die Lehrkraft das Wort zurück, die Moderatorin solle die Sitzung weiterführen. Diese bringt gerade zwei Worte heraus, dann redet wieder die Lehrkraft, entschuldigt sich dafür und redet weiter; am Ende packt die Moderatorin wortlos ihre vorbereiteten Zettel zusammen und geht mit dem Rest der Klasse einer Lehrkraft hinterher, die gesprochen hatte. Wieder ein anderes Beispiel: Ein Kind beanstandet, dass entgegen einer Vereinbarung ein Überraschungstest durchgeführt wird. Die Lehrkraft setzt den Test trotzdem durch und demütigt das Kind am Ende der Stunde. Die aus Hospitationen im Unterricht stammenden Fallbeispiele sind willkürlich herausgegriffene Momentaufnahmen, sie sollen nicht der Anklage dienen, sondern als Dokumente von Versuch und Scheitern. Ebenso gäbe es gelingende Beispiele, wie in nachstehender Vignette aus dem Forschungsprojekt „Personale Bildungsprozesse in heterogenen Lerngruppen“ (Michael Schratz/Siegfried Baur et al.) verdichtet: Nachdem alle Schüler/innen ihre Mathematikschularbeiten abgegeben haben, holt Bettina ihr Merkheft aus der Schultasche und beginnt darin interessiert zu blättern. Plötzlich hält sie inne und beginnt konzentriert zu lesen. „Ha! Ich habe es doch gewusst“, ruft sie laut aus. „Ich muss Ihnen was zeigen, Frau Brenner!“ Mit diesen Worten steht Bettina selbstsicher auf und geht mit ihrem Heft in der Hand zu Frau Brenner, der Integrationslehrerin, die vorne am Pult steht. „Das haben wir noch gar nicht gemacht! Wir haben erst die Umwandlung mit natürlichen Zahlen gemacht.“ Frau Brenner sieht sich das Beispiel in Bettinas Heft interessiert an und meint dann: „Das muss dann bei der Schularbeit ein Tippfehler sein.“ „Aber das haben wir noch nicht gemacht. Das mit der Umwandlung von natürlichen Zahlen“, erwidert Bettina beharrlich und legt dabei ihren Kopf leicht nach hinten. Frau Brenner schaut sie an und entgegnet mit einem leicht irritierten Unterton: „Wenn ihr diese Erklärung noch nicht hattet, müsst ihr mit Frau Beier darüber sprechen.“ An die Klasse gewandt, fährt sie laut vernehmlich fort: „Hört mir einmal alle zu! Bettina hat mir gerade ein Beispiel gezeigt, das ihr im Unterricht noch nicht gelernt habt. Das müsst ihr bitte mit Frau Beier besprechen.“ In der Klasse wird es unruhig. „Ja, das ist echt gemein!“, ruft ein Mädchen. „Ja, das find ich auch!“, stimmt ihr eine andere Schülerin zu. „Wenn ihr das noch nicht gelernt habt, kann es auch nicht gewertet werden“, sagt nachdrücklich Frau Brenner. „Ich werde auch mit Frau Beier darüber sprechen, wenn sie morgen wieder da ist. Ist das okay, Bettina?“ „Ja“, erwidert Bettina zustimmend nickend und kehrt mit einem zufriedenen Lächeln auf ihren Platz zurück. (BB2_04) Die Dynamik des Geschehens ließe viele Lesearten zu, zu denen der phänomenologische Forschungsansatz (vgl. Schratz /Schwarz/Westfall-Greiter 2012) einlädt. Hier sei die Hartnäckigkeit einer Schülerin hervorgehoben, die sich nicht abwimmeln lässt und dadurch die Unterstützung der Klasse und ein Einlenken der Integrationslehrkraft im Sinne einer Fürsprache erwirkt. Aus der eigenen Stellungnahme zu dieser Vignette: „In dieser Schulstunde […] vollzieht sich ein politisches Lernen jenseits der Messbarkeit von Leistung: dass Aufgaben angemessen sein müssen, dass auch die Vorgesetzten nicht unfehlbar sind, dass es nicht genügt, sich auf Nicht-Zuständigkeit zurückzuziehen, sondern dass Grundrechte eines beherzten gemeinsamen Vorgehens bedürfen. Eine Sternstunde der Demokratie und Zivilcourage, die auch der stellvertretenden Macht-Repräsentanz Respekt abringt, sie herausfordert, sie einbindet in ein Vorgehen zugunsten einer gerechten Lösung. Frau Brenner fragt Bettina noch, ob Bettina mit ihrem Vorschlag einverstanden ist. Das ist eine Geste der Anerkennung des Anderen: Es genügt nicht, einfach nur einen Vorschlag zu machen, es braucht auch das Einverständnis der Gegenseite. Es bedarf der Zustimmung. Bettina ist zufrieden. Sie ist die Heldin dieser lernseitigen Lehrstunde: Sie hatte sich hingestellt, selbstbewusst, ohne jede Aggression, aber mit einer deutlichen Beharrlichkeit im Sprechen, mit einer deutlichen Körpersprache des Nicht-Weichens auch auf die Gefahr hin, dass der/die Andere irritiert ist, denn diese/r Andere muss verstehen, dass man nicht weicht, muss verstehen, dass man im Sprechen der Wahrheit sich nicht abwimmeln lassen kann: Dies ist das Wahrsprechen des Anderen nach Foucault“ (Peterlini 2014: 191). Das offene Wort, das auch die Gegenseite „wahrspricht“ und damit aus ideologischen Haltungen befreien kann, hatte Foucault am Auftreten Platons gegen den Tyrannen von Syrakus dargestellt – die riskante Rede beeindruckte den Tyrannen derart, dass auch er bereichert wurde. Ein solches Verständnis geht tiefer als es gemeinhin Feedback-Interventionen im Sinne einschlägiger Ratgeber-Literatur oder psychologischer Modelle imstande sind. Feedback und Kritik mögen Regeln unterworfen werden, etwa jener der Sandwich-Strategie, dass man die bittere Botschaft zwischen zwei Brotscheiben aus Lob packt und dadurch schmackhafter macht; oder dass man darauf achtet, Sache und Person zu trennen, etwa indem der Empfänger mit den vier Ohren des Schulz von Thun zuhört, ob das Gesagte nun als Aufforderung, als Selbstaussage, als Sachaussage oder als Beziehungsaussage zu verstehen ist. Das hat seine Gültigkeit, aber die Gefahr ist groß, dass in der konkreten Situation die Ebenen verwechselt werden, die Regeln verschwimmen und Kritik genau das auslöst, was sie zugleich unfruchtbar macht: die Bloßstellung des oder der Kritisierten, die Zurückweisung von Kritik als unerlaubten Angriff oder deren geknickte Hinnahme durch Beschämung. Als unverzichtbare Momente demokratischer Teilhabe können Kritik und Feedback nicht losgelöst von den kulturellen, gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen betrachtet werden, in denen sie mehr oder weniger möglich sind. Eine politische Kultur, die in Oppositionellen Staats- oder Landesfeinde sieht, wird wenig förderlich sein. Ebenso erschwerend sind sozioökonomische Mechanismen, die Kritik und Widerstand mit sozialem Ausschluss oder gar Abstieg bestrafen. Von besonderer Bedeutung ist die Fehlerkultur einer Gesellschaft: Gerade in Berufen, bei denen Fehler fatal sein können (etwa dem Pilotenberuf) wurde erkannt, dass eine „Tyrannei der Perfektion“ (ebd. 256f) nicht die Vermeidung, sondern die Häufung von Fehlern fördert, weil Schwächen nicht eingestanden und bearbeitet, sondern überdeckt und geleugnet werden. Wer Kritik und Feedback fördern will, darf für Fehler nicht das symbolische (und in Gewaltsystemen reale) Todesurteil bereithalten. Weniger dramatische Beispiele: Wenn ein Trainer nach nicht einmal einem Drittel der Spielsaison ausgetauscht wird, weil die Mannschaft zu oft verloren hat, fehlt jedes Vertrauen, dass Krisen und Schwächezeiten auch wieder überwunden werden können. Wenn im klassischen Klavierkonzert der Fehlgriff des Pianisten eine Tragödie ist, gilt er im Jazz als Impuls für eine neue Improvisation. Hier hat sich Schule die Frage zu stellen, welche Fehlerkultur, welches Vertrauen in langsamere, stockende oder auch irrende Lernwege sie setzt, ob negative Noten oder Durchfallen für sich allein ein taugliches Feedback sind, welche anderen Formen von Rückmeldung, Austausch und durchaus auch von „Wahrsprechen“ denkbar sind. Wo die Kultur der Fehlerlosigkeit herrscht, der präzise messbaren und zeitgerecht eingeforderten Leistung, der sicheren und richtigen Antwort, wo Umwege oder suchende Antworten auch wertvoll sein können, wird es schwer sein, das Vertrauen ins eigene Können, in die eigene Teilhabe zu stiften, in jenen „Eigensinn“, der aus Lernen erst Bildung macht. Erziehung nach Auschwitz war für Adorno nur mehr denkbar als Erziehung zur Mündigkeit.
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