Kritik und der Denkfehler dahinter

 

In der Kunst und vielleicht auch bei Restauranttestern ist der Begriff „Kritik“ positiv besetzt. Im Alltagsleben, sei es privat oder beruflich, wird Kritik weitestgehend vermieden und gefürchtet, weil fehlinterpretiert oder abgewehrt. Schade, denn wer die Schnappatmung weglässt, erfährt, wie ein Mitmensch die Welt und uns erlebt. Nur über sich selbst erfährt man gar nicht so viel wie meist angenommen.

von Udo Ortler

Wenn wir uns unsere Lebenserfahrung mit Kritik wie eine Kette vorstellen und jedes ovale Kettenglied eine Begegnung mit Kritik darstellt, dürfte diese Kette einige Meter lang sein. Hierbei ist zu bedenken, dass in dieser Historie nicht nur Erfahrungen abgespeichert sind, welche uns selbst betreffen oder betroffen haben, sondern auch jene, die wir miterlebt, bei anderen beobachtet oder von denen wir gehört oder erfahren haben – bei jedem von uns eine beachtliche Ansammlung. Diese Kette, diese Biografie ist automatisch Ratgeber und Maßstab, wie wir zukünftig erlebte Kritik wahrnehmen, einschätzen und darauf reagieren. Wenn wir uns dessen bewusst sind, diesen Umstand reflektieren und an uns arbeiten, können wir  Kritik entspannter verarbeiten und den Grundstein für eine positive Entwicklungsspirale legen.

Wenn wir den Fokus auf eine einzelne Episode legen, ein einzelnes Kettenglied analysieren, lässt sich erkennen, dass Kritik in einem bestimmten Setting erfolgt. Der Blitz kann einen zwar urplötzlich treffen, kommt aber nicht aus heiterem Himmel. Genauso ist es mit einer negativ erlebten Rückmeldung, sie ist irgendwo in der Mitte eines zusammenhängenden Geschehens anzusiedeln.

Sicher führt nicht jede Kritik zum totalen Einsturz unseres Selbstbildes, doch steter Tropfen höhlt den Stein. Es macht sich also bezahlt, genauer hinzuschauen, denn einige Punkte liegen durchaus in unserem Interpretationsspielraum. Die „Aktion“ können wir so lassen. Wir gehen von einem Menschen aus, der sich angemessen benimmt, seine Angelegenheiten erledigt und mehr oder weniger sein Bestes gibt. Doch bereits bei der „Erwartungshaltung“ wird es spannend. Wenn wir Dinge nur tun, um von anderen gelobt zu werden, landen wir im emotionalen Minus. Auch negative Vorannahmen führen eher zum Fiasko, als dass sie uns davor bewahren. Eine neutral-postitive Haltung scheint mir sinnvoll und durchaus lebbar. Leicht positiv, da wir nach „Gutmenschenart“ leben und dann wird es schon passen. Doch plötzlich erwischt uns eine kalte Dusche, Kritik aus heiterem Himmel. Jetzt gilt es das Megafon umzudrehen. Wenn uns das als „unmittelbare Reaktion“ gelingt, brauchen wir uns um die „längerfristige“ keine Sorgen zu machen, denn positive Bewältigung von heute führt zu positiver Grundhaltung von morgen.

 

Aktion

Erwartungshaltung

Kritik

Unmittelbare Reaktion

Längerfristige Wirkung

Wir tun etwas; wir sind irgendwie oder irgendwo.

Kann neutral sein; positiv, weil wir Lob erwarten; negativ durch Schuldgefühle oder eine negative Grundhaltung.

Stress, Ablehnung, Angst, Wut, Unbehagen, fight or flight (Kampf oder Flucht)

Flashback (Nachhallerinnerung), erhöhte Empfindsamkeit für ähnliche Situationen, Verstärkung von negativen Glaubensätzen, verändertes Selbstbild

Antizipation

Was man heute untergräbt, kann einem morgen nicht auf den Kopf fallen. Es gibt einen „Trick“, wie man die Kritik entschärft und die Reaktionen, unmittelbar oder langfristig, gar nicht zu beachten braucht. Indem man negative Grundannahmen zementiert, vom Misserfolg ausgeht, selbst das Grau sicherheitshalber zu einem fetten Schwarz macht, tut Kritik nicht mehr weh. Sie ist dann Bestätigung der Erwartung. Durch die Antizipation des Negativen, fällt es, falls es eintritt, nicht mehr so stark ins Gewicht. Nachteil dieses „Tricks“ ist, dass man ständig, um ja nichts Schlechtes zu erleben, schlecht lebt.

 

Erstrebenswerte Kompetenz

Auch in der Schule wird kritisiert, aber wird der Umgang mit Kritik auch gelernt? In einer Schule des Wissens braucht es keine Kritik. Da weiß man, was richtig oder falsch ist und Hierarchien geben vor, wer über das eine oder andere entscheidet.

In der Schule der Kompetenzen jedoch ist es anders. Da wird individuell recherchiert, gesammelt, vorgetragen, diskutiert, gegenüber gestellt, kollektiv analysiert, da werden verschiedene Feedbackformen praktiziert und diese selbst auch wieder thematisiert. So wird konstruktiv Kritik üben sowie Kritik annehmen gelehrt und gelernt. In Ankündigung der Schulreform schrieb Ministerpräsident Matteo Renzi Anfang September: „L’Italia tra vent’anni non sarà come l’avranno fatta i decreti attuativi della Ragioneria dello Stato o le interviste dei ministri o gli editoriali dei professori. L’Italia sarà come l’avranno fatta le maestre elementari, gli insegnanti di scuola superiore, le famiglie che sono innanzitutto comunità educanti.” (s.  http://www.repubblica.it/politica/2014/09/02/news/scuola_renzi_non_ennesima_riforma_ma_nuovo_patto_educativo_stop_supplentite-94866144/)

Wenn das stimmt und wenn alle Kinder eine Schule der Kompetenzen besuchen, wird sich „Kritik“ zu einem durchwegs positiv besetzten Begriff entwickeln.

Wer das Megafon dreht…

… leidet nicht unter Schnappatmung. Vielleicht haben Sie sich schon gefragt, was es mit dem Umdrehen des Megafons auf sich hat. Diese Erklärung bin ich Ihnen bisher schuldig geblieben. Während uns der kalte Wind der Kritik ins Gesicht bläst, können wir uns entscheiden, wie wir sie aufnehmen. Entweder weil wir glauben, nicht anders zu können, oder weil wir uns mal wieder so richtig abreagieren wollen, lassen wir uns vom Stress überfluten und agieren gegen andere oder gegen uns selbst.

Weitaus angenehmer ist es, mit einem „Ah, interessant“ zu reagieren, denn das Megaphon steht  in Wirklichkeit andersrum. Der kalte Wind wird somit zur lauen Brise. Der Kritiker bzw. die Kritikerin sagt ja nichts über uns. Das zu glauben und unreflektiert und unmittelbar anzunehmen, wäre ein Denkfehler. Der Denkfehler betrifft jedoch nicht nur die unreflektierte Annahme der Kritik, sondern vor allem die unreflektierte Reaktion. Da könnten wir den anderen doch gleich eine Fernsteuerung für uns in die Hand drücken. Jede Person, die wir treffen, kann jederzeit uns, das was wir tun und wie wir sind, in Frage stellen. Die Offenbarung des Gegenübers sagt nicht, wie wir sind oder wie gut oder schlecht wir etwas erledigt oder uns benommen haben, sondern nur, wie diese Person darüber denkt. Dies ist ein entscheidender Unterschied und durch die zwei, drei Sekunden des „Ah, interessant“ haben wir Zeit zu denken und passend und eloquent zu antworten. Ohne Wind im Gesicht und somit ohne Schnappatmung sind wir handlungsfähig und können uns der Kritik stellen. Eloquenz ist in diesem Fall nicht wichtig, um gut dazustehen, sondern weil sie uns selbst gut tut. Auch muss man dann keine Scherben zusammenkehren. Vielleicht kommen wir zum Schluss, dass wir die Meinung des Gegenübers nicht oder nur teilweise teilen, können Missverständnisse klären oder sind froh, bestimmte Informationen, wie wir auf andere wirken, erhalten zu haben. Eine positive Auseinandersetzung tut uns gut und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass unsere nächste Reaktion auf Kritik ebenfalls konstruktiv ist.

 

 

 

Udo Ortler ist Mitarbeiter der Evaluationsstelle für die deutschsprachige Schule.

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