Europaorientierte Schule für Südtirol von Irma von Guggenberg und Aldo Mazza
Das Zusammenwachsen der europäischen Staaten zu einer Union und die Migrationsbewegungen stellen eine große Herausforderung an das Bildungswesen dar. Gefordert ist eine Reorganisation und Neudefinition der Aufgaben von Schule mit dem Ziel, die Verständigung zwischen den Bürgern der europäischen Länder und die Integration von Menschen unterschiedlicher Sprachen, Kulturen und Religionen zu erleichtern. Neue Kompetenzen wie interkulturelle Kompetenz, fremdsprachliche Kompetenz und Orientierungskompetenz sind gefragt, Kompetenzen, die in herkömmlichen Schulen nur zum Teil vermittelt werden. Die grundlegenden Ziele einer europaorientierten, interkulturellen und mehrsprachigen Schule sind demnach Selbstbestimmung und Übernahme von sozialer Verantwortung, Handlungs- und Orientierungsfähigkeit, Kommunikations- und Mitteilungsfähigkeit in Bezug auf die Geltung und Reichweite von Grundwerten, die die Gestaltung der europäischen Zukunft bestimmen (siehe die "Kölner Erklärung", ein internationales Symposium, das im Juni 1999 an der Europaschule Köln stattgefunden hat). Gesellschaftlicher Wandel in Südtirol Auch in Südtirol hat ein Wandel der wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen stattgefunden, der sich im Bewusstsein der Menschen niedergeschlagen hat. Die deutsche Minderheit ist durch das Autonomiestatut hinreichend geschützt, so sehr sogar, dass sich die italienische Sprachgruppe als neue Minderheit empfindet. Sie wird sich auch immer stärker der Notwendigkeit bewusst, die zweite Sprache Deutsch zu beherrschen. Auch wird die Mehrsprachigkeit zunehmend als Wert anerkannt, den es zu fördern gilt. Zweisprachige Familien nehmen nicht nur zu, sondern zeigen vor allem ein neues Selbstbewusstsein. Dieses äußert sich auch in der Forderung nach Rechten, die ihrer besonderen Situation Rechnung tragen. So wird das Recht auf eine zweisprachige Schule eingefordert, denn das derzeit bestehende Schulsystem mit getrennten Schulen für die beiden Sprachgruppen wird den Bedürfnissen von Kindern aus zweisprachigen Familien nicht gerecht. Ebenso nimmt auch die Zahl der Einwanderer aus europäischen und außereuropäischen Ländern zu, die sich mit ihren Familien in Südtirol niederlassen. Deren Kinder können nur sehr schwer und unter Aufgabe der eigenen sprachlichen und kulturellen Identität in das derzeitige Schulsystem integriert werden. Pendeln zwischen Sprachen und Kulturen Die verschiedenen Schulversuche vor allem an italienischen Schulen haben sich zum Ziel gesetzt, das Problem der Zweisprachigkeit zu lösen. Die Frage nach dem Erlernen der zweiten Sprache muss jedoch angesichts der neuen Gegebenheiten europaweit und südtirolbezogen anders und umfassender gestellt werden. Zwar wird die Kenntnis der zweiten und einer dritten Sprache ein wichtiges didaktisches Ziel sein, die Herausforderung ist jedoch weitaus größer. Die Entwicklung von Sprachbewußtsein, Bewusstsein der eigenen sprachlichen und kulturellen Identität muss einher gehen mit einer Relativierung der nationalen, sprachlichen und kulturellen Zugehörigkeit; d.h. das Pendeln zwischen Sprachen und Kulturen muss ohne Selbstaufgabe möglich und selbstverständlich werden. Den oben genannten Zielen muss das von H. Hentig aufgezeigte Bildungskriterium der Bereitschaft zur Selbstverantwortung und Verantwortung in der "res publica"als universales Bildungsziel übergeordnet werden, das letztlich zu Toleranz und Solidarität führt. (vgl. Hentig 1996, S. 75)., Für die Verwirklichung dieser Ziele braucht es ein Schulmodell, das nicht additiv oder selektiv gängige pädagogische Praxis übernimmt, sondern das aus der Begegnung, dem Dialog und der Synthese verschiedener pädagogischer Kulturen entsteht. Im Zentrum dieses Modells steht die Begegnung zwischen den Sprachen und Kulturen verschiedener Herkunft, die pädagogisch reflektiert und didaktisch genutzt wird. Dies kann nur durch ein besonderes Curriculum erfolgen, das durch eine neue Lehr- und Lernkultur Kinder und Jugendliche dazu befähigt, mit der Komplexität unserer heutigen Welt, ihrer sprachlichen und kulturellen Vielfalt zurechtzukommen. Wichtig dabei ist, dass Unterschiede thematisiert und aufgewertet und so als Lernchance und Bereicherung erfahren werden. Es bedeutet aber auch, dass die traditionellen Fächer auf ihre Relevanz und ihre Handlungsorientierung überprüft und entsprechend eingesetzt werden. Europaorientierte Schule: ein zusätzliches Bildungsangebot Eine so konzipierte europaorientierte, interkulturelle und mehrsprachige Schule in Südtirol versteht sich nicht als Ersatz des bestehenden Systems der getrennten einsprachigen Schulen, die bislang das Recht auf Bildung in der Muttersprache garantiert haben und es auch weiterhin tun müssen. Diese neue Schule versteht sich als zusätzliches Bildungsangebot, das als private Initiative ein Bildungsbedürfnis abdeckt, das bislang von der öffentlichen Schule nicht berücksichtigt wird. Sie kann nur aus der Zivilgesellschaft heraus in einem Klima der ethnischen Abrüstung/Versöhnung wachsen und wirken und ist auf den Konsens einer breiten Bevölkerungsschicht angewiesen. Es muss nicht eigens betont werden, dass eine derartige Schule keinen Erfolg haben kann, wenn sie sich nur an eine der in Südtirol lebenden Sprachgruppen richtet. Es handelt sich nicht um eine "Europäische Schule für die Italiener" oder für "die Deutschen". Die Präsenz der verschiedenen Kulturen im Territorium muss sich in allen personellen, inhaltlichen und formalen Bereichen widerspiegeln: Schüler, Lehrer, Unterrichtsprogramme, Didaktik. Wir stellen uns diese "neue" Schule auf der Basis einer privaten Trägerschaft vor, wobei für alle Interessierten die Wahlmöglichkeit offen bleiben soll. Wie umsetzen? Für die Umsetzung der Idee einer europaorientierten, interkulturellen und mehrsprachigen Schule ist es wichtig und notwendig, dass im Austausch mit ähnlichen Situationen in anderen zweisprachigen Gebieten oder Grenzregionen wissenschaftliche Untersuchungen zu diesem Bereich durchgeführt werden. Dies kann durch den Beitritt zur "Kölner Erklärung" und die Anbindung an andere europaorientierte Schulen und den Aufbau eines Netzwerkes zur gemeinsamen Durchführung von Projekten und zum Austausch von Erfahrungen erfolgen. Diese Schule existiert zur Zeit nur als Idee. Ihre Realisierung könnte als Oberschule mit neusprachlicher Ausrichtung erfolgen. Ebenso könnte es eine Grund- und Mittelschule bzw. im Kontext der Schulreform eine Basisschule sein, eventuell auch mit angeschlossenem Kindergarten. Die Schulautonomie räumt der Schule bei der Organisation, der Fächerkombinationen und der Gestaltung der Lehrpläne einen großen Spielraum ein. Im Rahmen einer Studie, die mit Mittel der Europäischen Union finanziert werden könnte, muss die Machbarkeit dieser Idee unter dem Aspekt der humanen, finanziellen und materiellen Ressourcen überprüft werden. Dabei müssen auch der rechtliche Rahmen untersucht und die pädagogischen Leitlinien überlegt werden. Sind Erfolgschancen gegeben, müssen als nächster Schritt ein detailliertes Projekt zur Organisation sowie konkrete Lehrpläne ausgearbeitet werden. Als dritter Schritt schließlich erfolgt dann die konkrete Umsetzung. Bei alledem dürfen weder die Komplexität dieses Unterfangens noch der große Aufwand für dessen Realisierung unterschätzt werden. Es darf aber auch nicht außer acht gelassen werden, dass sich in Südtirol die Voraussetzungen und das Umfeld für ein solches Schulmodell entwickelt haben. Es wäre eine vertane Chance, es nicht zumindest zu versuchen! Irma von Guggenberg
|