Die neue Vision ist die Weltgesellschaft - von Dietmar Larcher

In der Postmoderne erzeugt die weltweite Entwicklung eine neue ökonomische und politische Struktur. Die Gesellschaft der Zukunft wird notwendigerweise mehrsprachig sein. Darauf muss Schule vorbereiten.


Mehrsprachige Schulen? Als gäbe es eine am Berg Sinai verkündete Formel, was das sein soll. Mehrsprachige Schulen existieren in verschiedensten Varianten und verschiedensten kulturellen Kontexten. Es gibt zweisprachige Schulen (französisch-arabisch) in jedem libanesischen Dorf, obwohl es dort keine gemischtsprachige Bevölkerung gibt. Es gibt dreisprachige Schulen im Gadertal und in Gröden, gerade weil dort die Bevölkerung dreisprachig ist. Es gibt die dreisprachigen Klassen am Bundesgymnasium für Slowenen in Klagenfurt, obwohl es eine nur in Ansätzen zweisprachige Bevölkerung im Einzugsbereich dieser Schule gibt. Es gibt eine deutsch- und türkischsprachige Hauptschule im 17. Bezirk von Wien (Hernals), gerade weil dort der Anteil türkischsprachiger Bewohner so hoch ist.

Unterschiedliche Organisationsformen

Interessant sind die unterschiedlichen Organisationsformen solch mehrsprachiger Schulen. Es scheint eine unendliche Vielzahl davon zu geben. Die Europaschulen etwa, die für alle Kinder aus den unterschiedlichen Herkunftsländern ein verpflichtendes zweisprachiges Angebot haben, und zwar mit dem Schwergewicht auf der Sprache des Landes, in dem die Schule liegt, also der lingua franca für alle, und einem schwächeren Anteil an einer zweiten Sprache (Englisch zumeist, später weitere, zumeist prestigehohe westeuropäische Sprachen), aber dann - im Wiener Modell zumindest - zusätzlichen Sprachunterricht mit nationaler Trennung anbietet, der zufolge Kinder aus dem Lande A zusätzlich noch die Sprache A lernen, Kinder aus dem Lande B die Sprache B, usw. Oder die Schulen der kroatischsprachigen Minderheit im österreichischen Burgenland. Dort, wo es viele Kroaten gibt, im mittleren Burgenland etwa, sieht das Gesetz vor, dass die zweisprachige Schule mehr als die Hälfte des Unterrichts in kroatischer Sprache erteilen müsse. Dort, wo der Anteil an deutsch- und kroatischsprachiger Bevölkerung gleich hoch ist, in Gemeinden des südlichen Burgenlands, müssen alle Kinder 50% des Unterrichts in der einen, 50% in der anderen Sprache erhalten. Im nördlichen Burgenland dagegen, wo der kroatischsprachige Anteil der Bevölkerung weniger hoch ist, gibt es nur mehr eine sehr rudimentäre Form der zweisprachigen Schule: 3 Wochenstunden Kroatisch für alle, basta. Oder Luxemburg, zum Beispiel (70% Luxemburger, 8% Portugiesen, 5% Italiener, 4% Franzosen, 3% Deutsche): Da lernen alle zunächst einmal im ersten Schuljahr Letzebuergisch, die Landessprache im Rang einer Schriftsprache. Das ist insbesondere für die äußerst große Zahl von Kindern aus Migrantenfamilien schwierig. Vom zweiten Jahr an bis zum Ende der Volksschule erfolgt der Unterricht für alle in deutscher Sprache. Im Gymnasium jedoch wird Französisch zur Unterrichtssprache.

Genug der Kostproben. Hier sei lediglich festgehalten, dass nahezu jede mehrsprachige Region andere schulische Lösungen für die Chance (mancherorts sagt man "für das Problem") der Mehrsprachigkeit und der Multikulturalität sucht. Es ist wegen der unterschiedlichen Voraussetzungen und Hintergründe nahezu unmöglich, ein Modell mit dem anderen zu vergleichen, obwohl sich ganz gut sagen lässt, dass manche Modelle erfolgreicher als andere sind. Bei genauerem Hinsehen entdeckt man jedoch zumeist, dass man Äpfel mit Birnen verglichen hat.

Drei Stufen der Identitätsentwicklung

Identitätstheorie? Als ob es nur eine einzige gäbe! Identität, wie ich den Begriff im folgenden gebrauchen will, bezeichnet die umgangssprachliche Bezeichnung für die Fähigkeit, sich selbst trotz unterschiedlichster Rollen, die man zu spielen gezwungen ist, und trotz lebensgeschichtlicher Brüche und Wendepunkte als einheitliches, ganzes Wesen zu verstehen. (vgl. Habermas 1976, S. 68) Identität, so Habermas (a.a.O.), entwickelt sich im Laufe der Lebensgeschichte. Drei Stadien der Identitätsentwicklung lassen sich unterscheiden:
1. "Natürliche" Identität: Sie wächst dem Individuum gewissermaßen zu nach der Auflösung der symbiotischen Phase der frühesten Kindheit: das Kind kann den eigenen Leib von der Umgebung unterscheiden.
2. Soziale Identität: Sie besteht in der Übernahme fundamentaler Rollen der Familie, Übernahme der Normen und Rollen erweiterter Gruppen, mit denen man sich identifiziert. Es handelt sich um eine kollektive Identität. Das Ich ist ein Repräsentant der Gruppe.
3. Ich-Identität: Sie erfordert Distanz zu und Kritik an Gruppennormen. Die verbindende Einheit des Ich steht hinter allen Gruppenrollen und Gruppennormen: Ich als Autofahrer, Parteimitglied, Hobbykünstler, Vater einer Tochter, Arzt etc. habe trotz aller Anpassung an die Rollenerwartungen der anderen etwas unverwechselbar Eigenes in der Art, wie ich all diese Rollen spiele = Interaktionsidentität.

Die Bedingungen, unter denen wir leben, machen es relativ schwierig, alle drei Stufen der Identitätsentwicklung zu durchlaufen (Vgl. zum folgenden auch Larcher 1998, S. f.). Für viele Menschen ist es nicht möglich, eine Ich-Identität zu entwickeln. Ich-Identität entsteht immer erst durch Reflexion. Sie ist eine Reflexionsidentität. Sie entsteht in dem Moment, wo ich Distanz zu mir selbst als Mitglied einer Gruppe gewinne und wo meine Mitgliedschaft zu dieser Gruppe kleinere Brüche und Risse bekommt: zum Beispiel, wenn ich eine schwere Krankheit durchgemacht habe oder wenn ich längere Zeit im Ausland gelebt habe oder wenn ich eine Lebenskrise durchlaufen habe oder wenn ich eine tiefgehende Bildungserfahrung gemacht habe. Oft geht das eine mit dem anderen Hand in Hand. Jürgen Heinrichs hat dieses Gewinnen von Ich-Identität einmal aphoristisch auf einen einprägsamen Nenner gebracht: Der kürzeste Weg zu mir selbst führt rund um die Welt...

Nun gibt es aber wenig Leute, die rund um die Welt reisen oder andere tiefgreifende Bildungserfahrungen machen, die sie eine Ich-Identität gewinnen lassen. Die Ich-Identität bleibt ein Luxus. Der Großteil der Menschen lebt mit einer kollektiven Identität, d.h. der Großteil definiert sich über die Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Je nach Gruppe, der man sich am meisten zugehörig fühlt, übernimmt man deren wichtigstes Identitätsmerkmal und die dazugehörigen Identitätsaufhänger.

Simplifizierung von Identität

In der Regel gehört man mehreren Gruppen an, deren Ziele und Inhalte oft im Widerspruch zueinander stehen, und ist daher gezwungen, seine Identität mehrfach zu definieren, sich nicht bloß an einem einzigen Identitätsaufhänger festzumachen, sodass die kollektive Identität etwas relativ Komplexes und Widersprüchliches sein kann. Wie Pelinka bemerkt, stiftet Sprache zwar eine starke Identität, "aber immer in Konkurrenz; etwa in Konkurrenz zu Religion, zu Klasse, zu Geschlecht, zu Region, zu Generation..." (Pelinka 1995, S. 238). Er sagt außerdem, dass Identität häufig anhand von mehr oder weniger vorhandenen Konfliktlinien definiert, festgeschrieben und politisch nutzbar gemacht wird. Und er betont außerdem, dass in sehr komplexen Gesellschaften die Sehnsucht nach klar definierter Identität zu einer Simplifizierung der miteinander konkurrierenden Identitätsstifter führen kann, sodass Identität schließlich nur mehr anhand eines einzigen Identitätsmerkmales definiert wird, etwa der Religion oder der Sprache. Pelinka nennt dies "Fundamentalismus". "Fundamentalismus ist" also, ihm zufolge, "eine simplifizierte Zuschreibung einer ausschließlich religiösen Identität, aber auch eine simplifizierte Zuschreibung einer ausschließlichen Sprache, einer definierten Identität." (a.a.O, S. 238 f.)

Freilich, wenn man der Alltagssprache folgt, heißt Identität im Grunde auch nicht viel mehr als eine klar definierte Zugehörigkeit zu einer einzigen Gruppe. Eine Identität haben bedeutet ihr zufolge, für sich selbst und für andere deutlich wahrnehmbar einem bestimmten Kollektiv anzugehören: einer Nation, einer Ethnie, einer sozialen Schicht, einem Geschlecht, einer Berufsgruppe etc. Man sagt dann: "Ich bin/er ist ein typischer... Franzose, Ladiner, Macho, Lehrer etc." Die Alltagssprache, ebenso das Alltagsbewusstsein ist in dieser undialektischen Eindeutigkeit genauso fundamentalistisch wie die Taliban-Milizen in Afghanistan.

Abschied von einer homogenen Identität

In der Postmoderne geht das endgültig nicht mehr. Zu komplex sind die Mehrfachzugehörigkeiten jedes einzelnen Menschen geworden, zu selbstbestimmt ist jeder einzelne, als dass sich Identität noch mit einem einfachen Zugehörigkeitsbekenntnis festlegen ließe. Eindeutigkeit war die Devise der Moderne. Wenn sie nicht gegeben war (und nirgends war sie gegeben), dann wurde sie mit Gewalt hergestellt. Der schreckliche Kulminationspunkt dieser Logik der Eindeutigkeit war der Holocaust, mit dessen Hilfe das Deutschtum des deutschen Volkes eindeutig für immer hätte gesichert werden sollen.

Im Zeitalter der Moderne war die Schule die Fortsetzung des bewaffneten Kampfes um eine homogene nationale Identität. Ihre Aufgabe war, loyale Angehörige der Nation zu erziehen, die sich mit deren Sprache, deren Kultur, deren Tradition zutiefst identifizierten, die sogar bereit waren, sich auf dem "Altar des Vaterlandes" für diese nationalen Werte zu opfern. In der Postmoderne spielt die Nation nur mehr eine geringe Rolle, weil die weltweite Entwicklung neue ökonomische und politische Strukturen erzeugt: Die Globalisierung der Wirtschaft und der politische Zusammenschluss von immer mehr Staaten zu transnationalen Gebilden reduzieren den modernen Nationalstaat zu einer bescheidenen Größe. Die neue Vision ist eher die Weltgesellschaft als die Wiedererstehung des Nationalstaates, trotz der vehementen Rückzugsgefechte und Teilerfolge radikaler rechter Gruppierungen.

Individualisierte Lebensformen

Für das Individuum erfordert dieser Bedeutungsverlust des Nationalstaates, dass es sich auf eine ganz neue, bisher nicht gekannte Form der Lebensplanung und des Zusammenlebens wird vorbereiten müssen. Ulrich Beck, der Soziologe des Individuums, spricht in diesem Zusammenhang von einem Individualisierungsschub von bisher unbekanntem Ausmaß (vgl. Beck/Beck-Gernsheim 1994, S. 43 ff.). Die traditionellen Bindungen lösen sich auf. Der freie Lohnarbeiter der modernen Wirtschaft muss mit der Dynamik von transnationalen Arbeitsmarktprozessen zu Rande kommen. Dabei erlebt er eine ganze Reihe von "Freisetzungen". Immer von neuem muss er Bindungen aufgeben: Bindungen zur Familie, zur Nachbarschaft, zum erlernten Beruf, zur regionalen Kultur und zur liebvertrauten Landschaft, also zu dem, was wir Heimat nennen. Es entstehen individualisierte Lebensformen und Existenzlagen, welche die Menschen zwingen - und zwar um den Preis des materiellen Überlebens -, sich selbst zum Zentrum der eigenen Lebensplanung und Lebensführung zu machen.

In diesem Zusammenhang wird immer wichtiger, dass die "freigesetzten" Individuen befähigt werden, mit den Rollenanforderungen und den kommunikativen Herausforderungen einer völlig neuen Gesellschaft zurechtzukommen. Diese neue Gesellschaft wird multikulturell und mehrsprachig sein, ob uns das gefällt oder nicht. Sie ist es im Grunde schon heute. Darauf muss Schule vorbereiten, und zwar durch ihre Organisationsstruktur und durch ihr Curriculum: das Zusammenleben und Zusammen lernen von Kindern unterschiedlicher sprachlicher und kultureller Herkunft, heute noch elitäres Programm in Europaschulen für die Führungskräfte von morgen, wird zunehmend kulturelle Selbstverständlichkeit werden. Nicht weil die Menschenrechtserziehung es seit langem fordert, sondern weil die Wirtschaft es erzwingen wird.
In Kärnten gibt es seit einigen Jahren Experimente mit dreisprachigen Kindergärten und Schulen. Mein Institut an der Universität Klagenfurt, das diese Versuche von Anfang an begleitet hat, ist dabei, die Auswirkungen zu dokumentieren und zu analysieren. Derzeit entsteht gerade eine minutiös genaue Videostudie über einen dreisprachigen Kindergarten, die es erlauben wird, mit wissenschaftlicher Akribie sowohl die linguistischen wie die psycho-sozialen und identitätsrelevanten Phänomene dieser mehrsprachigen Erziehung genau unter die Lupe zu nehmen. Es wäre voreilig, zu diesem Zeitpunkt bereits Ergebnisse vorwegnehmen zu wollen. Unseren Beobachtungen zufolge zeichnet sich jedoch im Bereich der Identitätsentwicklung eine Tendenz ab, Selbst- und Fremddefinitionen weniger an der Sprache als am Interaktionsverhalten festzumachen. Wer sich besser auf andere einlassen kann, egal welcher sprachlichen Herkunft er oder sie sein mag, hat größere Chancen auf Wertschätzung in der Gruppe, entwickelt folglich auch ein positiveres Selbstbild.

Allerdings sei davor gewarnt, aus diesen Beobachtungen zu schließen, dass nun der Stein der Weisen gefunden worden sei. Die Kinder in den von uns wissenschaftlich betreuten Kindergärten und Schulklassen haben hochmotivierte Eltern, die allesamt im mehrsprachigen Aufwachsen ihrer Kinder einen hohen Wert sehen und die ihrerseits alles tun, um diese Mehrsprachigkeit auch im privaten Bereich zu fördern. Wir wissen nicht, wie sich Kinder entwickeln würden, die gezwungenermaßen in solchen mehrsprachigen Lerngruppen sitzen müssten, deren Eltern Angst vor der mehrsprachigen Zukunft hätten und daher die Bestrebungen des Kindergartens und der Schule keinesfalls unterstützen würden. Aus (nicht nur) identitätstheoretischer Sicht halte ich es daher bei meinem derzeitigen Kenntnisstand für wichtig, dass man die Eltern in den Bildungsprozess mit einbezieht, wenn man mehrsprachige Schulen mit multikultureller Schülerpopulation in das öffentliche Bildungsangebot aufnimmt. Dass solche Schulen in zunehmendem Maß eingerichtet werden sollten, halte ich für wichtig. Gerade in Südtirol.

Literatur

Beck, U./Beck-Gernsheim, E.: Individualisierung in modernen Gesellschaften - Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie. In: Beck, U./Beck-Gernsheim, E. (Hrsg.): Riskante Freiheiten. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994, S. 43 - 60


Habermas, J.: Moralentwicklung und Ich-Identität. In: Habermas, J.: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus. Frankfurt/.: Suhrkamp 1976, S. 63 - 91.


Larcher, D.: Kunstreiten auf dem Lipizzaner der Identität. Selbstvergewisserung unter den Bedingungen der Risikogesellschaft. In: Bettelheim, P./Fritz, Th./Pennauer, E. (Hrsg.): Kunstreiten auf dem Lipizzaner der Identität. Beiträge zu Kultur und Mentalität. Klagenfurt, Wien, Ljubljana, Sarajevo: Wieser Verlag 1998, S. 16 - 34.


Pelinka, A.: Pelinka, A.: Philosophie der Differenz oder Philosophie der Gleichheit? Filosofia della differenza o filosofia dell'ugualianza? Eine Diskussion - Una tavola rotonda a cura di Augusto Carli. In: Baur, S./Carli, A./Larcher, D. (Hrsg./a cura di): Interkulturelles Handeln. Neue Perspektiven des Zweitsprachlernens - Agire tra le culture. Nuove prospettive nell'apprendimento della lingua seconda. Meran/Merano: Alpha&Beta 1995, S. 239 - 241.

 

Dietmar Larcher