Lernen aus Liebe

Pädagogik nach Rudolf Steiner - von Walter Pichler

Die Freie Waldorfschule in Meran bemüht sich um öffentliche Anerkennung. Gerne nahm forum schule heute die Einladung zum Besuch eines Unterrichtstages dieses umstrittenen und zugleich interessanten Schulmodells an. Hier einige Impressionen von unserem Besuch.


Montagmorgen. Vor dem Haupteingang der Freien Waldorfschule Christian Morgenstern in Obermais/Meran sind Schüler/innen, Lehrpersonen und einige Eltern im Morgenkreis versammelt. Man reicht sich die Hände, begrüßt sich zum Wochenbeginn.
Die Schüler/innen der zweiten und dritten Klassen, die als Gemeinschaftsklasse geführt werden, laufen zum Roggenfeld, das hinter dem Schulgebäude vor einem Jahr angelegt worden ist. Frau Tapfer, die Klassenlehrerin, fragt die Schüler/innen nach dem Regen, der in der Nacht gefallen ist. Er trage zum Wachstum des Roggens bei. Dann reichen sich alle die Hände und sprechen einen Segensspruch. Denn bis zur Ernte kann noch vieles geschehen.

Pförtner

"Ist der Pförtner bereit?" Als Antwort ertönt ein Gong, der das Klassenzimmer wohltuend durchdringt. Es ist das Zeichen für alle Schüler/innen, dass nun der Hauptunterricht beginnt. So nennt sich, im Unterschied zum Fachunterricht, der stark rhythmisierte Unterrichtsabschnitt von 8 bis 10 Uhr morgens. Der Reihe nach erheben sich alle am Montag Geborenen und sagen ihren individuellen Zeugnisspruch auf, der sie seit dem Vorjahr begleitet. Anschließend spricht die Klasse gemeinsam ein Zitat aus der Schöpfungsgeschichte, zuerst auf Deutsch und dann auf Hebräisch. Darauf folgt ein Lied vom Regen, da es in der Nacht geregnet hat, und ein stark rhythmisierter Spruch von der Erde, den die Kinder gestisch begleiten. Im Anschluss daran liest die ganze Klasse gemeinsam und laut aus dem Lesebuch "Schau in die Welt" die Geschichte von "Hans im Glück".


Geschichte

In Obermais/Meran besteht die Freie Waldorfschule seit dem Herbst 1985. Sie führt von der ersten bis zur achten Klasse. Entstanden ist sie aus einer Initiative von Eltern, Lehrern und Förderern der Waldorf Schulbewegung. Getragen wird die Initiative vom Rudolf Steiner Schulverein - sie ist eine von 750 Waldorfschulen weltweit. Ihre Lehrer/innen stehen in Kontakt mit anderen Waldorfschulen.
Die Methode des Unterrichtens fußt auf den Einsichten und Überzeugungen Rudolf Steiners, dem anthroposophischen Gründungsguru der Waldorfschulen. Steiner gründete 1919 die erste Waldorfschule für die Arbeiterkinder der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik in Stuttgart, wo er Unterrichtsmethodik und -didaktik und Lehrpläne entwickelt, die im Kern noch heute für alle Waldorfschulen verbindlichen Charakter haben.


Vormoderne

Ich blättere im Lesebuch, mir fällt auf: beinahe jeder zweite Text hat einen religiösen Inhalt; manche Texte muten antiquiert an. Präsentiert werden Ausschnitte von Lebenswirklichkeiten, wie es sie heute eigentlich nicht mehr gibt. Herausgegeben wurde das Lesebuch im Jahr 1997 vom Verlag Freies Geistesleben.
Es passt zum Gesamtkonzept der Waldorfschulen, und zum Credo eines Waldorflehrers, dass die moderne Welt mit ihrer Technisierung, ihren Problemen und Widersprüchlichkeiten den Kindern nicht zumutbar ist. Kinder bedürften eines Schonraums, so äußerte sich jüngst Walter Hiller, der Generalsekretär des Bundes der Freien Waldorfschulen in Deutschland, gegenüber der ZEIT.
So ist der Einsatz von Medien, vor allem von Film und PC, in Waldorfschulen eher verpönt. "Ein wenig wird aus der (finanziellen) Not eine Tugend gemacht, so die Waldorflehrerin Monika Ladurner aus Meran. Aber das Grundcredo an der Waldorfschule lautet: die Grundfähigkeiten der Schüler/innen würden durch die Medien nicht geschult. Die Überzeugung, dass der Umgang mit modernen Medien auch zu den Grundfähigkeiten des modernen Menschen gehört, ist in Waldorfschulen nicht verbreitet.

Ziele

Größter Wert wird auf langsames, intensives "Lernen aus Liebe" gelegt. Unterrichtsinhalte werden in intensiven Zeitblöcken von 3-5 Wochen, sogenannten Epochen, vermittelt.
Lernen mit Kopf, Herz und Hand ist ein Grundsatz, dem sich die Waldorfschule verpflichtet fühlt. Glaubt man den Eltern, die häufig von der Schule begeistert sind, wird er auch in die Unterrichtspraxis umgesetzt. Die Schüler/innen lernen unter anderem einen Acker bestellen, eine Mauer aufstellen, Gartenarbeit, Stricken, ein Instrument.
Ein besonderer Schwerpunkt ist multikulturelles Lernen: Italienisch und Englisch werden von der ersten Grundschule an unterrichtet. Ein Fernziel der Schule ist es, neben dem deutschsprachigen Zug einen italienischen aufzubauen.
Im Religionsunterricht können die Schüler/innen zwischen katholischem, evangelischem und freiem christlichen wählen.
Auf Notendruck wird verzichtet. Sitzen bleiben im klassischen Sinn gibt es nicht, doch müssen am Ende der fünften und achten Klasse die Abschlussprüfungen an staatlichen Schulen absolviert werden.

Finanzielles

Als Privatschule, die in der Vergangenheit kaum gefördert wurde, musste die Waldorfschule von den Spenden der Eltern und von Gönnern getragen werden. Finanzielle Engpässe waren Dauerzustand, und Lehrkräfte notorisch unterbezahlt, sodass eine wesentliche Funktion der stark in die Schule eingebundenen Eltern auch darin bestand, durch Veranstaltung verschiedener Basare, Elternabende usw. Geld aufzutreiben bzw. im Schulgebäude selbst Hand anzulegen und Putzarbeiten zu erledigen.
Das soll jetzt anders werden. Nachdem das Schulhaus in ein Gebäude von öffentlichem Interesse umgewidmet wurde, kann jetzt, mit Unterstützung der öffentlichen Hand, umgebaut werden. Das war der erste notwendige Schritt der Waldorfschule in Richtung Anerkennung und Unterstützung durch die öffentliche Hand.

Chancen

Seit die Autonomie der Schulen in aller Munde ist, rechnet sich die Waldorfschule eine erhöhte Chance auf Anerkennung aus. Denn autonom ist sie schon lange. Seit dem Frühjahr 2000 sucht die Waldorfschule das Gespräch mit den Schullandesrätinnen und mit dem Schulamtsleiter. Als Ansprechpartnerin für weitere Schritte in Richtung Anerkennung wurde Frau Inspektor Eva Lanthaler ernannt. Große Hoffnung wird auch auf die Festschreibung der Alternativpädagogiken in einer Durchführungsbestimmung gesetzt. Denn manches, was die staatliche Schule in den letzten Jahren allmählich für sich entdeckt (Stichworte: Ganzheitliches Lernen, handlungsorientierter Unterricht, Erlebnispädagogik, Elternarbeit), ist im Schulprogramm von Waldorfschulen schon länger festgeschrieben und - unter spezifisch anthroposophischen Vorzeichen - auch Realität.

Hürden

Dass auf dem Weg zur endgültigen Anerkennung noch einige Hürden zu nehmen sind, liegt auf der Hand: neben dem Umbau des Schulgebäudes, das derzeit nicht den Normen einer öffentlichen Schule entsprechen würde, sind die Lehrpläne und das Lehrpersonal zu nennen. Ob anthroposophischer und staatlicher Bildungsauftrag unter einem Dach harmonieren können, muss sich erst noch zeigen. Und was bleibt vom anthroposophischen Anspruch, wenn die Lehrkräfte nicht mehr - so wie bisher - eigens ausgebildet werden, sondern von den staatlichen Rangordnungen genommen werden müssen?
Verabschieden müssen wird sich die Schule auch von anderen Freiheiten in der Personalwahl: eine Techniklehrerin mit italienischer Muttersprache? In Südtirol läuft so etwas unter dem Verdikt Immersionsunterricht, mögen jetzt Kinder und Eltern mit der Lehrkraft zufrieden sein oder nicht.

Abends

Das Ende eines jeden Schultags beschließt der Klassenlehrer im Gebet. Er versucht mit seinen Schulkindern eine geistige Verbindung aufzunehmen, und zwar mit jedem einzelnen. Denn das, was untertags an der Schule durchgenommen wurde, soll in der Nacht in den Seelen der Kinder weiter arbeiten. Daher die Kontaktaufnahme. So hat es Guru Rudolf Steiner gelehrt. Und so wird es noch heute gemacht.

 

Der AutorWalter Pichler