Ein Neubau muss her

Auswirkungen der Schulreform auf die derzeitige Grund- und Mittelschule

Von Peter Höllrigl

Als Metapher dargestellt wird mit dem Gesetz Nr. 30/2000 (Gesetz zur Neuordnung der Schulstufen) ein radikaler Neubau des italienischen, mehr als hundert Jahre alten "Schulhauses" angestrebt. In den Jahrzehnten von den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts bis zum Jahr 2000 war immer wieder der Versuch unternommen worden, in zahlreichen kleineren und größeren Ausbesserungs- und Renovierungsarbeiten den veränderten gesellschaftlichen Voraussetzungen und daraus resultierenden Anforderungen an Schule Rechnung zu tragen, ohne an der Struktur größere Änderungen vorzunehmen. Die Notwendigkeit größerer Änderungen wurde durch "Aufstockungen"- man denke hier zum Beispiel an die Einführung der Einheitsmittelschule 1962, die das vormalig dreistöckige Schulgebäude (Kindergarten, achtjährige Grundschule mit dem Ableger Lateinmittelschule; Oberschule) auf vier (KG, GS, MS und OS) erhöhte - und "Zubauten" - eine schier unübersehbare Ausdifferenzierung im Rahmen von Schulversuchen und Ähnlichem - gelöst.
Aus den alten Fehlern hat man gelernt. Oder doch nicht?

Aus zwei mach eins - oder: Wer schafft hier wen ab?
Was sich vor dem Hintergrund der Schulreform abzeichnet, bzw. was der Gesetzgeber mit dieser Reform beabsichtigt, geht über die Aufgaben und Zielsetzungen der heutige Grundschule genauso hinaus, wie über jene der heutigen Mittelschule.
In keinem anderen vom Reformgesetz 30/2000 gestreiften Bereich sind so tiefgreifende Änderungen geplant wie im Bereich der derzeitigen fünfjährigen Grundschule und der derzeitigen dreijährigen Mittelschule: Beide Schulstufen werden zu einer einzigen, siebenjährigen Schulstufe (scuola di base) zusammengeführt, die in der Folge als neue siebenjährige Grundschule bezeichnet wird.

Und dies, obwohl gerade diese beiden Schulstufen, darauf machten in den letzten Monaten viele Kommentare aufmerksam, am ehesten den komplexen gesellschaftlichen Anforderungen an Schule gerecht wurden und werden. Zumal die Grundschule im Laufe der 90er Jahre, bedingt durch das Grundschul-Reformgesetz Nr. 148/1990 (in Südtirol Landesgesetz Nr. 25/1993), einen grundlegenden inneren Wandel vollzogen hat und eine im Jahre 1997 vom Unterrichtsministerium durchgeführte breit angelegte Untersuchung zu den Auswirkungen der Grundschulreform Italienweit zu überaus positiven Ergebnissen führte.

Entstehen soll nun eine neue, einheitliche Grundschule, welche neben der Vermittlung grundlegender Selbst- und Sozialkompetenzen einen sukzessiven Übergang von einer Einführung in die Kulturtechniken und einer ganzheitlichen Annäherung an die verschiedenen Wissens- und Fachbereiche ("primarietà" - Kennzeichen des Lernens in der bisherigen Grundschule) hin zu einer konkreten und fachbezogenen Auseinandersetzung mit den Bildungsgütern, auch im Hinblick auf das erste Biennium der Sekundarschule, ermöglichen sollte.


Reform - warum?
Ein einheitlicher und kontinuierlicher Bildungsweg (didaktische Kontinuität) für den Schüler innerhalb der - bis zur Anhebung der Schulpflicht im Jahre 1999 - gesamten Pflichtschuljahre (Grundschule und Mittelschule) sollte durch staatliche Gesetze (Gesetz Nr. 148/1990) sowie die entsprechenden Landesrichtlinien und Lehrpläne für Kindergarten, Grund- und Mittelschule bereits bisher gewährleistet werden. Dieses Verbinden gemeinsamer Zielrichtungen mit dem Lernen in zwei verschiedenen Institutionen konnte in der Praxis aber kaum zufriedenstellend umgesetzt werden. Der immer wieder beschriebene Bruch (discontinuità) zwischen diesen beiden Schulstufen wird nun auch als eines der großen Probleme erwähnt, welche man durch die Schulreform zu bewältigen hofft.

Diese Brüche sind aber nicht nur zwischen Grund- und Mittelschule feststellbar. Vielmehr sind sie ein, wenn auch negatives, Merkmal des gesamten italienischen Schulwesens. Darauf, und auf weitere Unzulänglichkeiten der italienischen Schule weist der OCSE-Bericht aus dem Jahre 1998 hin.

Das Reformgesetz vom Februar 2000 muss also auch vor dem Hintergrund solcher Unzulänglichkeiten gesehen werden wie:
· die hohe Anzahl an Repetenten,
· das Phänomen des frühzeitigen Schulabbruchs,
· die fehlenden Strukturen für die Erfüllung der Ausbildungspflicht,
· die fehlenden bzw. unzulänglichen Infrastrukturen,
· die Formen der Aufnahme und Ausbildung des Lehrpersonals usw.


Ebenso möchte man durch die Reform gesamteuropäischen Entwicklungen Rechnung tragen, welche einerseits eine Neudefinition schulischen Lernens anstreben, andererseits jenen strukturellen Rahmen schaffen, in welchem den veränderten Anforderungen an Schule besser Rechnung getragen werden kann:
· Insgesamt kürzere Ausbildungszeiten (Reduzierung von 13 Jahren auf 12 bis zur staatlichen Abschlussprüfung);
· Erarbeitung eines Lernbegriffs, der neben dem Wissen das Augenmerk vor allem auf Kompetenzen legt;
· Größeres Augenmerk auf Kompetenzen im Bereich der Sprachen und der Informationstechnologien;
· Anpassung der Jahresstundenzahl an europäische Standards (30 Wochenstunden, ca. 1000 Jahresstunden);
· Höhere Durchlässigkeit des Schulsystems.

Letztlich will die Schulreform jenen institutionellen Rahmen schaffen, in welchem die Schulautonomie voll verwirklicht werden kann. Das zentral gesteuerte Bildungswesen war nur in geringem Maße in der Lage, auf die veränderten Lernvoraussetzungen der Schüler und die vielfältigen gesellschaftlichen Anforderungen pädagogisch angemessen zu antworten. Auch aus diese Grunde wird vorgesehen, den Anteil der curricularen Selbstgestaltungsmöglichkeiten (Wahlpflichtbereich) jeder Schule von 15% auf 25% zu erhöhen.

Mit der Neuordnung der Schulstufen wird also der Versuch unternommen, alle Bedürfnisse erzieherischer und sozialer Art neu und einheitlich zu definieren, um
die ganzheitliche Entwicklung der Persönlichkeit des Schülers zu gewährleisten und ihn bestmöglich auf seine zukünftigen Aufgaben und Verantwortungen als Staatbürger vorzubereiten.


Learning by doing oder: Stufenübergreifende Direktionen als Versuchslabors für die Reform

Italienweit konnten bereits ab der Mitte der 90er Jahre - das Gesetz Nr. 97/1994 führte zu den ersten stufenübergreifenden Direktionen (circoli comprensivi) - jene Lernerfahrungen angebahnt werden, die nun bei der Umsetzung der Reform hilfreich sind. Bis zum Schuljahr 1999/2000 waren ca. 60% aller Direktionen im Pflichtschulbereich bereits stufenübergreifend organisiert, wobei viele jener didaktischen und organisatorischen Erfahrungen gesammelt werden konnten, die nun im Gesetz 30/2000 und auch im Umsetzungsplan der Regierung vom 03.11.2000 ihren Niederschlag finden. Nicht umsonst werden diese Schulen deshalb als Versuchslabors für die Reform bezeichnet, in denen eine erste Auseinandersetzung mit den zentralen Themen der Reform stattfinden konnte und dementsprechende Erfahrungen gesammelt wurden:
· die didaktische Kontinuität innerhalb der Pflichtschule,
· die Auseinandersetzung mit dem neuen Einheitscurriculum (curriculo verticale),
· das neue Berufsbild der Lehrerinnen und Lehrer.

Direkte Erfahrungswerte dieser Art fehlen der deutschen Schule in Südtirol weitgehend.

Die Reform läuft ab oder: Die Marschtabelle zur Umsetzung des Gesetzes Nr. 30/2000

Um die Umsetzungsmöglichkeiten des unter seinem Vorgänger Luigi Berlinguer im Februar 2000 verabschiedeten Reformgesetzes auszuloten, setzte Unterrichtsminister Tullio De Mauro im Sommer 2000 die Kommission der (272) Weisen ein, welche das Ergebnis ihrer in neun Arbeitsgruppen abgehaltenen Beratungen am 12. September 2000 übergab.
In diesem mehr als hundertseitigen Papier wurde auch der Zeitplan aller Maßnahmen bis hin zum konkreten Umsetzungsbeginn im September 2001 vorgesehen.

· Innerhalb September/Anfang Oktober - Die Regierung legt dem Parlament den Umsetzungsplan für das Gesetz Nr. 30/2000 vor.
· Innerhalb November 2000 - das Parlament beschließt die spezifischen Zielsetzungen der einzelnen Programmpunkte. In der Folge sollten die Schulen in Diskussion um die neuen Curricula einbezogen werden. Ebenso sollte die Kommission der Weisen wiederum die Arbeit aufnehmen.
· Innerhalb Februar/März 2001- Die einzelnen Programmpunkte werden auf der Grundlage der Beschlüsse des Parlamentes und der verschiedenen Diskussionsergebnisse festgelegt.
· September 2001 - Umsetzung der Reform in den ersten Klassen der zwei Zyklen (Grundschule und Sekundarschule)

Dieser ehrgeizige Zeitplan konnte von Anfang an nicht ganz eingehalten werden. So wurde der vom Minister der Regierung vorgelegte Umsetzungsplan (programma quinquennale di progressiva attuazione della legge 30/2000 di riordino dei cicli di istruzione) erst am 3.11.2000 von dieser genehmigt und an das Parlament weitergeleitet.
Nun muss das Parlament innerhalb von 45 Tagen, also noch vor Weihnachten, die spezifischen Zielsetzungen eines jeden Programmpunktes beschließen. Alle anderen Maßnahmen laufen Gefahr, von diesen Verzögerungen beeinträchtigt zu werden.

Was sieht der Umsetzungsplan für die derzeitige Grund- und Mittelschule derzeit vor?
Im Umsetzungsplan der Regierung ist vorgesehen, dass mit September 2001 die Reform in der ersten und zweiten Klasse der Grundschule eingeführt werden soll.
Die Gliederung der siebenjährigen Grundschule sieht dabei folgendermaßen aus:

Gliederung Klassen Ziele Lehrpersonen
Biennium 1. Klasse Einführung in die Kulturtechniken und ganzheitliche Annäherung an die Fächer Lehrpersonen der Grundschule
2. Klasse
Triennium 3. Klasse Anbahnung des sukzessiven Übergangs hin zu den einzelnen Fachbereichen Lehrpersonen der Grundschule und der Mittelschule
4. Klasse
5. Klasse
Biennium 6. Klasse Ausbau des Fachunterrichtes mit besonderem Augenmerk auf das Biennium der Oberschule und die staatsbürgerlichen Aufgaben Lehrpersonen der Mittelschule
7. Klasse

Als wichtigste Akteure der Umsetzung der Reform werden im Umsetzungsplan die Lehrpersonen aller Schulstufen, die Direktor/innen und die Schüler/innen und Eltern genannt.

Ende gut - alles gut?
Die anstehenden Reformmaßnahmen setzen einen Endpunkt unter die verschiedenen Reformvorhaben im italienischen Schulsystem in den 90er Jahren.

Bisher stehen nur die Eckpfeiler der konkreten Umsetzung fest. Nach wie vor sind aber viele Fragen offen, die in den nächsten Wochen und Monaten geklärt werden müssen. Dazu zählen unter anderem:
· Zeitrahmen und Formen der Umsetzung
· Anpassung der Lehrer/innenausbildung
· Entwicklung eines Einheitscurriculums
· Schaffung der Infrastrukturen
· Verwendung des Lehrpersonals


Peter Höllrigl
Grundschulinspektor