Die Schulwelt ist gehörig in Bewegung geraten. Vieles ist in
veränderung, sodass sich die Frage stellt: Wieviel Innovation verträgt
die Schule? Und in welche Richtung soll sie gehen?

forum schule heute organisierte eine Gesprächsrunde mit Rudolf
Meraner, Direktor des Pädagogischen Instituts, Toni Ladurner, Direktor
der LEWIT Meran, und Sonja Spornberger, Lehrkraft an der Grundschule Gries
in Bozen.
Wodurch
kennzeichnet sich eine innovative Schule?
Meraner:
Eine Schule ist dann innovativ, wenn sie sich immer wieder fragt: Wo stehen
wir? Wohin entwickeln wir uns? Was können wir besser machen? Und
wenn sie entsprechende Maßnahmen entwickelt.
Spornberger:
Eine innovative Schule ist eine Schule, die sich verändert, ihr Handeln
hinterfragt, evaluiert und weitergeht. Eine Schule, die sich nach außen
öffnet, Klassenpartnerschaften eingeht, die Bedürfnisse der
Schüler, Eltern und Lehrer auch in Stundenplan und Stundentafel berücksichtigt
und die neue Lernformen anwendet.
Ladurner:
Eine gute Schule ist auch eine innovative Schule, und eine innovative
Schule hat den Anspruch, eine gute Schule zu sein. Nach Hartmut von Hentig
ist es eine "Schule, die sagt, was sie tut und tut, was sie sagt."
Also eine Schule, die sich Gedanken darüber macht, was sie tut, hinterfragt;
die aus der Selbstgenügsamkeit ausbricht und die Schulpartner in
den Entwicklungsprozess einbezieht. Konkret heißt das, dass die
Schule in mehreren Feldern, in denen wir tätig sind, die Bedürfnisse
erfasst und entsprechend handelt.
Welches Bild haben Sie konkret
von einer innovativen Schule?
Meraner: Innovation kann sich in vielen Bereichen zeigen. Eine
innovative Schule setzt ganz gezielte Schwerpunkte und fragt sich, ob
diese zielführend sind. Innovation heißt nicht Aktionismus;
es ist empfehlenswert, nicht 1000 Projekte zugleich anzugehen, sondern
lieber weniger anzustreben und das konsequent umzusetzen.
Spornberger: In den letzten 20 Jahren haben die Innovationen -
meiner Meinung nach - immer mehr den Rahmen als die Inhalte betroffen;
insbesondere waren verwaltungstechnische Anliegen vordergründig.
Wenn ich es mit einem Bild vergleiche, dann hat das Bild einmal einen
neuen Rahmen bekommen, dann wurde es in neuen Techniken, in Öl oder
Aquarell, gemalt - ich denke an die methodisch-didaktischen Neuerungen.
Aber die Diskussion um die Inhalte ist zu kurz gekommen.
Ladurner: Die Ergebnisse der PISA-Studie bestätigen, dass der strapazierte
Begrifvon Schlüsselqualifikationen in den Unterricht noch nicht richtig
Eingang gefunden hat. Die Lehrpläne sind meist die alten geblieben,
die Anforderungen sind gestiegen; es hat wenig Entrümpelung stattgefunden.
Die Verunsicherung der Lehrpersonen hat zugenommen: Welche Fertigkeiten
müssen eingeübt werden, was müssen Schüler der 5.
Grundschule, der 3. Mittelschule wissen und können?
Meraner: Es stimmt, die Lehrpläne müssen überarbeitet
werden, doch fehlen dazu die Rahmenbedingungen. Es muss Klarheit über
die Struktur der Schule herrschen. Es ist richtig, eine Bildungsdiskussion
ist nötig. Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Ist es nicht unsinnig,
wenn Schüler in einer 3. Klasse Mittelschule drei Monate lang zeilenlange
Klammerrechnungen und Doppelbrüche rechnen und sich nur eine Woche
lang mit Prozentrechnungen auseinandersetzen? Wird da an anwendungsorientiertes
Wissen gedacht? Werden hiermit Problemlösestrategien geschult?
Braucht die Südtiroler Schule
vor allem neue Unterrichtsformen oder neue Inhalte?
Spornberger: Es ist an der Zeit, Inhalte zu hinterfragen, Schwerpunkte
bindend in den Lehrplänen vorzusehen. Die Lehrfreiheit betrifft die
Methode, nicht die Inhalte. Ich vermisse, dass die Inhalte immer mehr
aus dem Blickwinkel verschwinden. Junge Lehrer sind somit allein gelassen.
Die Fachgruppen und Tutoren tun das Ihre, aber von der Führung kommt
zu wenig Unterstützung. Wichtig für die Führungskräfte
sind verwaltungstechnische Fragen, Stundenplan, Methode und Didaktik.
Ladurner: Die Unterrichtsgestaltung ist nach wie vor das zentrale
Thema, wobei die Inhalte und die Unterrichtsformen wichtig sind. Es gab
in den letzten Jahren einige Vorschläge zur Bildungsreform und zur
Schulentwicklung, zum Beispiel das "Südtirol 2000" oder
das Leitbild, das von der Kommission Brockmeyer erarbeitet wurde. Ich
habe aber den Eindruck, dass vieles toter Buchstabe bleibt.
In den letzten Jahren haben namhafte
Referenten, wie Rainer Brockmeyer, der Südtiroler Schulwelt Impulse
zu Schulentwicklung und Schulprogrammen gegeben. In diesem Schuljahr wurde
mit dem Referenten Heinz Klippert der Schwerpunkt auUnterrichtsmethoden
gelegt. Wird hier ein neues pädagogisches Konzept propagiert, ehe
das vorhergehende umgesetzt wurde?
Meraner: Ich sehe hier keinen Widerspruch. Interessant ist, dass
Brockmeyer und Klippert vom "Haus des Lernens" sprechen. Wir
müssen von verschiedenen Ansätzen aus aueine neue Lernkultur
zugehen. Deren Umsetzung kann nur Schritt für Schritt erfolgen. Vermutlich
brauchen wir dazu zehn Jahre.
Spornberger: Unterrichtsinhalte sehe ich noch nicht. Die Autonome
Schule betrifft bis jetzt noch mehr das Verwaltungstechnische als das
Unterrichtsgeschehen.
Ladurner: Die Umsetzung ist schwierig. Wir sind zu sehr dem zentralen
Modell verhaftet. Das Konzept des eigenverantwortlichen Lernens und der
Selbstverantwortung der Schule muss mit der Rechenschaftspflicht und der
Kontrolle von außen einhergehen. Es muss überprüft werden,
ob die Ziele erreicht werden.
Meraner: Eigenverantwortliches Arbeiten der Schüler und neue
Lernkultur setzen neue Strukturen voraus. Da sehe ich den Zusammenhang
mit der Autonomie der Schule. Eigenverantwortliches Arbeiten kann nicht
im 50 Minuten Takt geschehen; es braucht mehr Flexibilität, was nur
durch entsprechende Rahmenbedingungen machbar ist. Diese werden durch
die Autonomie eröffnet.
Ist es denn sekundär, was
die Lehrkraft in der Klasse tut?
Ladurner: Der Lehrer als Einzelkämpfer ist überfordert.
Leichter wäre es, wenn es öfter gelänge, gemeinsame Strategien
zu entwickeln, um neue Situationen zu meistern, wenn es mehr Kooperation
gäbe.
Spornberger: Die Grundschule ist hierin einige Schritte weiter:
Zwar wurde der Teamunterricht reduziert, aber der Teamgeist und die neue
Qualität der Zusammenarbeit und Planung sind gefestigt, bieten Hilfe
und entsprechen auch der gesellschaftlichen Entwicklung. Über diese
Innovation bin ich sehr glücklich.
Konkret sieht das doch so aus:
Eine Lehrperson, die 20 Stunden Unterricht hat, muss darüber hinaus
noch etliche Stunden in Sitzungen mit anderen Lehrern gemeinsam über
Schulentwicklung nachdenken, Schulprogramm entwickeln und neue Situationen
meistern. Geht das nicht auKosten der Vor- und Nachbereitung?
Meraner: Gemeinsame Arbeit bringt zunächst höhere Belastung
mit sich; aulange Sicht aber führen geteilte Verantwortung und gemeinsam
getroffene Vereinbarungen zu Entlastung. Wichtig ist, wie die ersten Schritte
gesetzt werden: nicht sofort zu große Bauten errichten wollen, sondern
kleine Bausteine festigen, die Erfolg versprechen.
Ladurner: Vielleicht auch nicht auder Ebene des gesamten Kollegiums,
sondern zunächst in den Fachgruppen. Dort kann fruchtbarer Austausch
an Ideen und Materialien die Arbeit erleichtern. Wenn die internen Ressourcen
mehr genutzt werden, bewirkt das, dass nicht zusätzliche Sitzungen
nötig sind, sondern dass in den Sitzungen die nötige Arbeit
getan wird.
Spornberger: Aus Erfahrung kann ich sagen: Teamfähigkeit
entwickelt sich nicht im Miteinander-Reden, sondern im Miteinander-Tun;
das steigert die Professionalität und die Unterrichtsqualität.
Ladurner: Aus Innovation soll sich nicht nur für Schüler
ein besserer Unterricht, sondern auch für Lehrer eine sinnvollere
und weniger anstrengende Arbeit ergeben. Wenn die Lasten ungleich verteilt
sind und die Bereitschaft zu weiterem Einsatz unterschiedlich ist, führt
das zu internen Konflikten. Wo Kooperation funktioniert, wird der Lehrberuzu
einem Vollzeitberuf. Von der Vorstellung, dass ein Lehrer genau 20 Stunden
in der Schule und darüber hinaus nicht mehr verfügbar ist, muss
man sich verabschieden. Audie Dauer kann der Erfolg nicht vom Idealismus
Einzelner abhängen, andernfalls erfolgt Burnout.
Es gibt Erfahrungen andernorts,
z. B. aus der Schweiz, wo bewährte Unterrichtsmaterialien, auch Lernwerkstätten,
zwischen Schulen ausgetauscht werden. Warum wird so etwas in Südtirol
nicht wirklich in Angrifgenommen?
Meraner: Das ist nicht so einfach. Es gibt z. B. einen Kreis von
Lehrern, die sich in Lehrgängen fortgebildet haben und nun Werkstattmaterialien
austauschen. Dabei gilt: Jeder, der Erfahrung hat und etwas bringt, kann
etwas mitnehmen. Es hat sich insbesondere in der Grundschule durchgesetzt.
Aber Hilfen sind auch im kleineren Kreis und mit kleineren Einheiten möglich.
Werkstatt ist eine komplexere Unterrichtsform; man muss damit umgehen
können; ein mechanischer Einsatz bringt nichts. Doch auch für
andere Unterrichtsformen können Arbeitsblätter, Tests erstellt
und ausgetauscht werden.
Ein Lehrer ist gewiss bereit,
seine gesamte Vorbereitung an der Schule durchzuführen, wenn die
räumlichen Gegebenheiten und die Ressourcen es ermöglichen,
wenn jeder Lehrer seinen Raum, seine Bücher, seinen PC zur Verfügung
gestellt bekommt.
Ladurner: Sehr wohl kann die Vorbereitung an der Schule stattfinden,
dazu benötigt nicht jede Lehrkraft ein eigenes Büro, es genügt
ein Arbeitsraum für Lehrer. Andernfalls ist die Lehrkraft ja wieder
isoliert und kann nicht zusammenarbeiten. Grenzen sehe ich hier für
Lehrpersonen mit Teilzeitauftrag und für Eltern mit kleinen Kindern.
Dennoch muss die Entwicklung in die Richtung gehen, wo Einzeldasein aufhört,
da die Lehrkraft allein die vielen Aufträge, die zum Unterrichten
dazukommen, sonst nicht bewältigt.
Meraner: Zielführendes Konzept ist das der Eigenverantwortlichkeit.
Man muss Kooperation in die Hand nehmen und so gestalten, wie sie für
die Einzelnen brauchbar, notwendig und sinnvoll ist, d. h. alle Möglichkeiten
flexibel nutzen. Werkstattunterricht und Einsatz von PC sind an und für
sich nichts Innovatives und kennzeichnen - für sich allein - noch
nicht eine gute Schule. Voraussetzung ist, zu hinterfragen, warum man
das macht. Ebenso ist ein kurzer Vortrag durch die Lehrkraft nicht an
und für sich falsch. Insgesamt gesehen muss aber die Eigenaktivität
der Schüler im Unterricht zunehmen, und die Lehrertätigkeit
muss in den Hintergrund treten.
Sehen Sie also in den neuen Lernformen,
in der neuen Lernkultur, den Schlüssel für eine innovative Schule?
Meraner: Ja, ein Schlüssel dazu können die neuen Lehr-
und Lernformen sein, die die Erkenntnisse der Lernforschung ernstnehmen.
Wir sind in Südtirol massiv dabei, das umzusetzen. Lernen passiert
im Kopdes Lernenden, verknüpft sich mit seinen Vorkenntnissen und
mit seiner Person.
Ladurner: Dazu muss aber auch der Schüler wegkommen von einem
utilitaristischen Lernverhalten, das sich ausschließlich audie zu
erreichende Note konzentriert.
Gibt es diese Schule, in der
Schüler/innen lustvoll und von sich aus lernen oder ist das nur eine
schöne Vision der Pädagogen, die in der Schulrealität nicht
erreichbar ist?
Spornberger: An der Grundschule gibt es das ganz sicher. Es herrscht
kein Noten-, kein Testdruck. Schüler lernen gern und freuen sich.
Das Lernen erfolgt handlungsorientiert. Wichtig ist, dass dahinter nie
das Ziel übersehen wird: Was will ich damit erreichen? Die Inhalte,
die Lernziele dürfen nicht aus dem Blickfeld verschwinden. Neue Lernformen
sind nur ein Weg zum Ziel. Es sollten mehr Diskussionen über Inhalte
und Leistung stattfinden, und zwar aujeder Schulstufe.
Ladurner: Man muss sich der Frage stellen, was am Ende herauskommen
soll. Hauptanliegen ist, den Schülern eine gediegene Qualifikation
zu ermöglichen.
Meraner: Ein Problem der Schule derzeit sehe ich darin, dass fälschlicherweise
zu oft gemeint wird, schülerzentriertes, eigenverantwortliches Arbeiten
erhebe geringeren Leistungsanspruch. Das ist ein großes Missverständnis.
Gute Schulen stellen an Schüler hohe Leistungsansprüche, sie
trauen Schülern etwas zu.
Ladurner: Nicht von oben Druck ausüben, wohl aber Ansprüche
stellen. Die bestehenden Fähigkeiten ausbauen, das Bildungsniveau
erhöhen, Wissen aneignen, das leisten gute Schulen.
Spornberger: Es gibt auch die Leistungsfreude. Wenn es mir gelingt,
die Leistungsfreude zu wecken und zu erhalten, dann bin ich auf dem richtigen
Weg.
Die Gesprächsrunde moderierten Walter Pichler und
Ledi Turra Rebuzzi.
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